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Wie ein ukrainischer Soldat und seine Frau um Hoffnung ringen

Er hat ein Bein verloren, sie sorgt sich um die Söhne. Dennoch wollen Mykola und Julia, ein Ehepaar aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew, nicht aufgeben. Für das neue Jahr halten sie an einer Hoffnung fest.

Mykola sitzt auf seinem Bett in der chirurgischen Abteilung eines Kiewer Krankenhauses. Der 49-Jährige hat gute Laune. “Darf ich vorstellen”, sagt er, “das ist Julia. Meine Frau und die Direktorin unserer gemeinsamen Baufirma.” Er schiebt hinterher: “Aber wenn ich aus dem Krankenhaus raus bin, bin ich wieder der Chef.” Beide lachen.

Erneut ist der 49-Jährige im Krankenhaus. Mykola ist Geschäftsmann, hat mit seiner Frau eine kleine Baufirma aufgebaut. Elf Bauarbeiter sind dort beschäftigt, im Winter sechs. Und seit dem Frühjahr 2022 ist Mykola Soldat in der ukrainischen Armee.

Bei einem Fronteinsatz im Juni hat ihm eine Explosion das linke Bein weggerissen. Es folgte ein mehrmonatiger Klinikaufenthalt in der Lwiwer Klinik “Unbroken”, die auf die Anpassung von Prothesen kriegsverletzter Soldaten und Zivilisten spezialisiert ist. Nach drei Monaten konnte Mykola die Klinik verlassen – mit einer Prothese. Sofort stürzte er sich in seine Arbeit, fuhr Auto, versuchte, so normal wie möglich zu leben. Doch dann traten Probleme auf.

Irgendwie habe sich der Körper gegen diesen Fremdkörper gewehrt, sagt er heute. Und so musste er erneut ins Krankenhaus, dieses Mal in seiner Heimatstadt Kiew. Dort hat man ihm die Prothese wieder abgenommen. Doch Mykola ist guten Mutes. “In ein paar Wochen geht es wieder nach Lwiw, und dann bekomme ich eine neue Prothese.” Das ist seine Hoffnung für 2025 – und, dass der Krieg in diesem Jahr zu Ende gehen wird.

Davon abgesehen denke er “nicht mehr in Jahreszeiträumen”, sagt Mykola: “Für mich gibt es zwei Zeiten: die Zeit vor dem 24. Februar 2022 und die Zeit danach.”

Besonders eingeprägt haben sich auch bei Julia die ersten Kriegsmonate. Zusammen floh das Ehepaar aus Kiew in das westukrainische Iwano-Frankiwsk, nach zwei Wochen ging es zurück in ein Dorf in der Nähe von Kiew. “Wir hatten geglaubt, in einem Dorf sei man sicherer als in Kiew”, erinnert sich Mykola. Tatsächlich war es umgekehrt: Nur fünf Kilometer von ihrem Dorf entfernt standen die Russen. Zunächst hatte er sich der Territorialverteidigung angeschlossen – Einheiten von Freiwilligen, die ihre Dörfer und Städte schützen wollten. “Und dann, im Sommer musste ich an die Front, als Soldat”, berichtet er. Seit dieser Zeit führt seine Frau die gemeinsame Firma.

Geprägt hätten die vergangenen drei Jahre “Hoffnungen, die ständig enttäuscht wurden”, sagt der Geschäftsmann. Zunächst habe man Anfang 2022 gehofft, dass es schon nicht zu einem Krieg kommen werde. Dann habe man gehofft, dass das Ganze nicht lange dauern werde. “Und 2024 haben wir alle an der Front gehofft, dass es zum Jahresende vorbei sein wird.”

Mykola spricht gerne und viel. Doch bei einer Frage stockt er: ob er an einen baldigen Waffenstillstand glaubt. Er schweigt fast eine Minute lang. “Klar”, sagt er schließlich. “Es wird irgendeine Vereinbarung geben und dann werden die Waffen schweigen. Aber auf der anderen Seite frage ich mich, wie man mit jemandem Vereinbarungen treffen kann, der ständig lügt und betrügt.”

Mehrfach wird vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gesprochen, doch niemals fällt dessen Name. Putin ist nur “er”, wenn Mykola zurückblickt: “Damals hat er auch behauptet, auf der Krim seien keine russischen Militärs. Und irgendwann hat er es doch zugegeben.” Julia sagt, noch immer könne sie es nicht fassen: “Wir sollen eine Vereinbarung mit einem ungebetenen Besucher treffen, der in unser Haus gekommen ist, einige Bewohner umgebracht hat und nun verlangt, dass wir ihm einen Teil unseres Hauses überlassen.”

Eigentlich seien sie zufrieden mit ihrem Leben, fährt die 49-Jährige fort. “Wir haben alles gehabt: Wir haben eine Familie gegründet, wir haben zwei liebe Söhne, wir haben Arbeit und eine Wohnung. Das ist vieles, was andere nicht haben.” Eine ihrer Freundinnen hatte in Charkiw einst eine große Wohnung: “Und jetzt hat sie nur noch das, was sie bei ihrer Flucht in ihrem Rucksack mitgenommen hat”.

Jedes Mal, wenn die Sirenen vor einem Luftangriff warnen, ziehe sich ihr Herz zusammen, sagt Julia. Ihr Mann sieht es anders: “Mich stören die Sirenen nicht.” Nach allem, was er an der Front erlebt habe, seien die Sirenen in Kiew eine Kleinigkeit. Doch Julia sorgt sich um die Kinder. Ein Sohn geht noch zur Schule, der andere studiert, will Programmierer werden. Und: Jedes Mal müsse sie weinen, wenn sie höre, dass in der Nachbarschaft wieder ein toter Mann beklagt wird. Es wird leer in der Stadt.

Trotz allem, sagt Julia schließlich: “Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Irgendwie wird alles gut werden.” Mykola bewegt sich in seinem Rollstuhl zum Aufzug, fährt herunter zum Haupteingang der Klinik. “Möchte eine Zigarette rauchen. Das Rauchen habe ich vor zwei Jahren an der Front angefangen. Jetzt kann ich nicht mehr damit aufhören”, sagt er. Vor der Pforte nimmt er den ersten Zug. In Kiew schneit es.