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Wenn wir Engeln begegnen

Über den Predigttext zum 7. Sonntag nach Trinitatis: Hebräer 13,1-3

Predigttext
1 Haltet fest an der Geschwisterliebe! 2 Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben, denn auf diese Weise haben einige, ohne es zu wissen, Engel bei sich aufgenommen. 3 Denkt an die Gefangenen, als ob ihr selbst mit ihnen im Gefängnis wärt! Denkt an die Misshandelten, als ob ihr die Misshandlungen am eigenen Leib spüren würdet!
Aus: „Die Gute Nachricht“

Stimmt, ist meine erste Reaktion. So wie es im Predigttext steht, sollte es in der christlichen Gemeinde sein. Dieser unbekannte Briefschreiber spricht mir aus dem Herzen. Ich stelle mir eine Gemeinde vor, in der wir aus der Liebe Gottes heraus geschwisterlich miteinander leben.

Die Gemeinden waren um 80 nach Christus zur Zeit der Entstehung des Briefes aufgerufen, gastfreundlich zu sein und Durchreisende bei sich zu beherbergen. Der Verfasser hatte ganz konkrete Situationen vor Augen. Er sah Menschen, denen geholfen werden musste.

Erinnerung an das Selbstverständliche

Und heute? Bei dieser Frage habe ich sofort die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten vor Augen. Im Jahr 2019 sind 1900 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Was für eine Katastrophe. Hier ist Hilfe und Gastfreundschaft gefragt. Das ist doch selbstverständlich. Aber warum passiert dann nicht genug? Warum müssen wir Christen seit 2000 Jahren an diese Selbstverständlichkeit immer wieder erinnert werden?

Wenn ich mir einen Moment Zeit nehme und genau hinschaue und hinspüre, merke ich, wie schwer mir diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten im Alltag fallen. Ich ertappe mich dabei, wie ich über die Nachrichten von Flüchtlingsbooten hinweglese und verdränge, dass täglich Menschen ertrinken. Der positive Blick, der aus der geschwisterlichen Liebe erwächst, an den muss ich mich immer wieder erinnern oder erinnern lassen.

Der Blick der Liebe verändert die Umwelt

Was verändert sich, wenn ich voller Liebe auf meine Umwelt schaue? Ich schaue freier und unbefangener und neugieriger auf das, was mir begegnet. Das bietet so viel Chancen.

Was hindert mich also so zu handeln? Vielleicht Angst. Angst, in etwas hineingezogen zu werden, was mir Arbeit und Mühe macht. Angst, dabei selber zu kurz zu kommen. Angst, dass meine Offenheit und meine Zuwendung missbraucht werden?

Angst ist kein guter Ratgeber, aber sie ist da. Vielleicht kann der Hebräerbrief mich motivieren.

Er hat eine gute Motivationsstrategie. Es kann sich lohnen, da vielleicht Engel zu Gast sein könnten. Das bedeutet ja nicht, naiv zu sein, sich alles gefallen zu lassen. Es bedeutet, die Perspektive zu wechseln vom unbegründeten Misstrauen hin zum in Gott begründeten Vertrauen.

Vertrauen ermöglicht echte Begegnung

Dieses Vertrauen ermöglicht wirkliche Begegnung. Dazu brauche ich Gemeinschaft mit meinem Nächsten. Nur im anderen habe ich die Chance, Engeln zu begegnen. Gemeinschaft in diesem Sinne ist mehr als das Aufeinandertreffen von Menschen. Gemeinschaft und Gastfreundschaft feiern wir in der Gemeinde besonders im Abendmahl. Gott lädt uns ein an seinen Tisch.

Diese Gastfreundschaft, diese Gemeinschaft fehlt mir im Augenblick. Ich glaube, dass deswegen viele so kreativ werden. Es werden Streamings und Videokonferenzen angeboten. Gabenzäune eingerichtet. Und viele suchen nach neuen Formen, um Abendmahl zu feiern wie das Online-Abendmahl. Die Coronakrise hat viele Ideen hervorgebracht.

Ich fänd‘s toll, wenn diese Kreativität und dieser Einfallsreichtum erhalten bleiben. Wenn wir sie auch in anderen Bereichen nutzen könnten. Ich hoffe, dass wir hier vom Hebräerbrief lernen. Ich möchte den vielen neuen Möglichkeiten erst mal positiv begegnen und nicht als Erstes das nicht Gelungene sehen oder gefangen bleiben in den gewohnten traditionellen Sichtweisen – Sichtweisen, die mich sagen lassen: Das kenne ich nicht, das ist mir so fremd, das geht nicht.

Ich wünsche mir, dass ich den Mut habe, aktiv zu werden und mich beispielsweise für Initiativen wie das Rettungsschiff der Evangelischen Kirche in Deutschland, Sea Watch 4, einzusetzen. Ich möchte wachsam bleiben.
Ich wünsche mir, dass ich mich immer wieder aus der Liebe Gottes inspirieren lasse, in geschwisterlicher Liebe auf meinen Nächsten zuzugehen.