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“Wenn man dem Tod ins Auge blickt” – Nach dem Amoklauf von Graz

Der Amoklauf an einer Schule im österreichischen Graz erinnert mit entsetzlicher Ähnlichkeit an die Schulmassaker in Erfurt und Winnenden. Können Augenzeugen solche Taten verarbeiten, ohne lebenslanges Trauma? Was hilft?

Entsetzlich, unvorstellbar – und doch real. Der Amoklauf an einer Schule in Graz mit zehn Toten erinnert an ähnliche schreckliche Geschehnisse in Deutschland wie in Erfurt (2002) und in Winnenden (2009). Wer eine solche Gewalttat miterlebt, kann ein Leben lang traumatisiert werden. Christian Lüdke ist Notfall-Psychotherapeut und war in Erfurt im Einsatz: “Ich habe dort Schülerinnen und Schüler betreut und Überlebende aus dem Lehrerkollegium.”

Wenn so ein Amoklauf eintrete, “glauben die meisten erstmal, sie sind in einem völlig falschen Film”, sagte Lüdke am Mittwoch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Stuttgart. “Da blickt man ja dem Tod regelrecht ins Auge – und das löst bei eigentlich allen Menschen einen Schockzustand aus.” Manche rennen weg, andere schreien, andere erstarren, wieder andere handeln noch überlegt. “Der Körper schaltet in einem Sekunden-Bruchteil in den Überlebensmodus”, erläutert Lüdke.

Aus notfalltherapeutischer Sicht sei es “direkt nach einem solchen Ereignis ganz wichtig, möglichst viel Ruhe und Abstand herzustellen, am besten weit weg vom Ort des Geschehens”, sagt Lüdke, der eine “Psycho-Trauma-Kompetenz”-Praxis im westfälischen Lünen hat. Das Motto laute: “Beruhigen, beruhigen, beruhigen.” Im besten Falle könne man die Augenzeugen einer furchtbaren Tat “mit Menschen zusammenbringen, die ihnen vertraut sind, um den Gefühlen freien Raum zu geben”. Manche brächen dann zusammen, andere schrien.

Wichtig sei, “die Aufmerksamkeit abzulenken auf schöne Ereignisse”. In die Natur gehen, Sport machen, malen, etwas Gutes essen, “oder auch ein Computerspiel spielen” – und zwar immer wieder. Forscher hätten herausgefunden, dass einfache Computerspiele wie “Super Mario” die Rezeptoren im Gehirn blockieren, an denen normalerweise das Stresshormon Cortison andocke. “Das traumatische Ereignis kann dann gar nicht ins Nervensystem einsickern”, sagt Lüdke. Auch TV-Serien anzuschauen, habe eine entsprechende “entspannende Wirkung”.

Nicht so günstig sei hingegen, “dass man jemanden auffordert, über das Ereignis zu reden”. Zahlreiche Studien zeigten, dass dies nur sehr wenigen Augenzeugen wirklich helfe. Denn wenn man immer wieder darüber rede, sei das “eine starke Erlebnis-Aktivierung”, die zur Retraumatisierung führen könne.

Denn das “Erlebnis” ist in solchen Fällen extrem verstörend. So wie am 26. April 2002, als ein Ex-Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst tötete. Oder am 11. März 2009, als ein 17-jähriger ehemaliger Schüler an der Albertville-Realschule in Winnenden 15 Menschen erschoss.

Ein halbes Jahr nach dem Amoklauf in Winnenden – am 2. Oktober 2009 – wurde in der baden-württembergischen Kleinstadt ein Verein zur Vorbeugung solcher Gewalttaten gegründet. Mit der Arbeit wolle man dazu beitragen, dass “eine Katastrophe” wie der Amoklauf von Winnenden “weniger wahrscheinlich wird”, so die Initiatoren.

Man wolle vor allem Eltern und Lehrkräften Mittel für Gewaltprävention an die Hand geben – durch Infoabende mit Fachreferenten und Deeskalationstrainern. Tobias Sellmaier, Vorsitzender des Vereins für Präventionsarbeit, sagte der KNA, seit dem Amoklauf von Graz stehe sein Telefon “nicht mehr still”. Auch sein E-Mail-Postfach laufe über. Er bekomme viele Anfragen aus Österreich und aus Deutschland.

In Winnenden erinnert seit 2014 in der Albertviller Straße 11 ein sieben Meter breiter, schräg liegender Ring aus Stahl – der an einer Stelle aufgebrochen ist – an die Opfer des Amoklaufs. Mit seinem Werk “Gebrochener Ring” will der Künstler Martin Schöneich ausdrücken, “dass das Leben vor der Tat eine harmonische Einheit war”. Die Öffnung zeige die Verletzung.

Präventionsvereins-Vorsitzender Sellmaier sagte am Dienstagabend im ARD-“Brennpunkt”, an Jahrestagen kämen viele Menschen an diesen Gedenkring in Winnenden. Aber viele bräuchten auch Abstand, “weil der Schmerz und die Traumata noch zu tief sitzen”.

Und Gisela Mayer, eine Mutter, die damals ihre Tochter in Winnenden verloren hat, sagte dem SWR: “Es ist, als wäre es gestern gewesen in Winnenden.” Mit Blick auf Graz ergänzte Mayer, sie könne gut verstehen, “was die Angehörigen, die Eltern, die Geschwister empfinden, wie groß das Entsetzen ist”. Das sei bei ihr mehr als Erinnerung – “das ist ein sehr, sehr lebendiges Gefühl”.