BIELEFELD – Das hat die alte Dame noch nicht erlebt: Fast 800 Jahre steht sie in der Bielefelder Fußgängerzone, aber jetzt findet in ihren ehrwürdigen Mauern der erste Poetry Slam statt. Während der Weihnachtsmarkt bei 15 Grad versucht, Besucher zu Glühwein und gebrannten Mandeln zu locken, bildet sich vor der Tür der Altstädter Nicolaikirche eine Schlange. Brot für die Welt hat sechs bekannte Slammer zum Wettstreit eingeladen. Mit selbstverfassten Texten präsentierten sie am 22. November ihre Vorstellungen von einer Welt, die keine Grenzen kennt — keine der Kreativität und keine der Phantasie.
Bewertet wird nach Applausstärke
Knapp 300 Menschen zwischen 13 und 80, mit erkennbarem Migrationshintergrund und Ur-Westfalen, zählt Pfarrer Armin Piepenbrink-Rademacher in den Kirchenbänken. Der von You Tube bekannte Moderator Marc Schuster, genannt „Katze“, übt mit dem Publikum die phonstarke Bewertung der Slammer, und alle, die Mädchen mit Rastazöpfen, die jungen Männer mit Pferdeschwanz und ergraute Senioren im Dufflecoat, klatschen und trampeln mit den Füßen nach einer Skala von 1 bis 10. Dann geht es los.
Sim Panse aus Bremen, Bo Wimmer aus Marburg, Özge Cakirbey aus Gelsenkirchen, Fatima Talalini aus Dortmund, Martin Frank aus Hildesheim und Björn Gögge aus Essen – alle in der Szene bekannte Größen – treten gegeneinander an mit ihren Versen und Texten. In zum Teil atemberaubendem Tempo, mal laut und rebellisch, mal eindringlich leise, immer leidenschaftlich, oft zynisch, mal mit kindlichem Leuchten, dann wieder mit bitterschwarzem Humor tragen sie vor, was sie wahrnehmen und was sie bewegt: Warum sie nicht nach Afrika wollen, wenn der schwarze Kontinent nach wie vor weiß dominiert ist und auf dem Mittelmeer schwarze Köpfe treiben. Oder wieso es den Armen im Süden der Welt nichts hilft, wenn deutsche Kinder immer brav ihren Teller leer essen.
Sie nehmen die Zuhörer mit zu einer Fußgängerampel in der Stadt und auf einen Waldspaziergang und lassen sie dort die überbordende Fülle der Natur erleben. Sie schauen Kindern im Sandkasten zu und trauern Peter Lustig nach, der so unnachahmlich die kleine wie die große Welt erklären konnte, ohne dass man sich belehrt fühlte. Sie möchten sein wie ein Erwachsener, der sich trotz allem ein kindliches Herz bewahrt hat, und stellen sich als junge Menschen in Deutschland die Frage: Müsste ich nicht glücklicher sein?
Im Laufe des Abends fügen sich die scharf beobachteten Details wie einzelne Pixel zu einer großen Momentaufnahme der Welt zusammen. Am Ende kürt das gebannte Publikum ganz knapp die junge Erzieherin Özge Cakirbey aus Gelsenkirchen zur Gewinnerin.
Vielleicht waren ja alle die Gewinner: die Slammer, die ihren hervorragenden Ruf festigen konnten, die Zuhörer, die einen inhaltsreichen Dichter-Wettstreit erlebten – und Frauen in Ägypten, die noch nicht lesen und schreiben können, denn der Erlös des Abends kommt einem Bildungsprojekt von Brot für die Welt dort zugute.
Die Mitveranstalter MÖWe (Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen) und Welthaus Bielefeld kündigten für das kommende Jahr einen weiteren Slam mit Bielefelder Slammern an. Mit im Boot waren bei der sechsten und bisher bestbesuchten Veranstaltung der westfalenweiten Slam-Reihe von Brot für die Welt auch die Fair Trade Town Bielefeld und der Karibuni Weltladen.