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Wegweisender Urteilsspruch

Klägerin erhält Entschädigung wegen kirchlicher Einstellungspraxis. Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts löst Debatte über mögliche Konsequenzen aus. Reaktionen aus Politik und Kirche

Jens-Ulrich Koch

Erfurt – Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat ein wegweisendes Urteil zur kirchlichen Einstellungspraxis gesprochen und damit eine Debatte über mögliche gesetzliche Konsequenzen ausgelöst. Die Bundesregierung müsse das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgehend reformieren, erklärten die Grünen-Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz und Sven Lehmann in Berlin. Sie wollen dazu einen Antrag in den Bundestag einbringen. Der kirchenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Castellucci, forderte dagegen die Kirchen zu Konsequenzen auf. Dia­konie und Caritas kündigten erste Maßnahmen an.

EuGH-Urteil maßgeblich für Erfurter Richter

Der SPD-Politiker Castellucci bezeichnete die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts als „gutes Urteil“ und forderte die Kirchen auf, selbst Konsequenzen zu ziehen. „Die Kirchen argumentieren zum kirchlichen Arbeitsrecht gerne, nur so glaubhaft das Evangelium verkünden zu können“, sagte der kirchenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion. „Für mich ist glaubhafte Verkündigung aber allein der liebevolle Dienst am Menschen“, ergänzte er. Viele kirchliche Entscheidungen, die in letzter Zeit durch die Medien gegangen seien, hätten wenig mit der konkreten Lebenswirklichkeit von Menschen zu tun.
Kirche und Diakonie hatten angekündigt, zu prüfen, ob sie nach ihrer Niederlage vor dem BAG nun vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Der Bochumer Arbeitsrechtler Jacob Joussen hält das für möglich. BAG und EuGH auf der einen und Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite fielen nach dem Urteil jetzt „weit auseinander“, sagte er der „Rheinischen Post“. Der Tübinger Rechtswissenschaftler Hermann Reichold sieht das Urteil sogar auf einer „schiefen Ebene“. Wenn künftig Richter die Selbsteinschätzung kirchlicher Einrichtungen überprüfen sollen, ob und inwieweit ein Job bei einer kirchlich getragenen Einrichtung das Etikett „religionsnah“ verdient, dann habe „eine solche Fremdeinschätzung das Zeug zur Bevormundung“, schrieb er in einem Gastbeitrag für den Fachdienst „epd sozial“.
Ein Sprecher der Diakonie sagte, vorläufig werde man in der Tendenz prüfen und dokumentieren, ob bei Ausschreibungen die Anforderung an Kirchenmitgliedschaft zwingend erforderlich ist. Auch der Deutsche Caritasverband erklärte, er sehe sich nach dem Erfurter Urteil in der Pflicht, noch gründlicher zu prüfen, wann eine Religionszugehörigkeit tatsächlich eine zu rechtfertigende berufliche Anforderung sei.
Nach dem Erfurter Urteil dürfen kirchliche Arbeitgeber die Religionszugehörigkeit nicht in jedem Fall zur Voraussetzung bei Stellenbesetzungen machen. Die Richter sprachen der Berlinerin Vera Egenberger, die sich als Konfessionslose erfolglos um eine Stelle beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung beworben hatte, eine Entschädigung in Höhe von 3915,46 Euro zu.
Die Klägerin Egenberger zeigte sich zufrieden mit der Entscheidung. „Die Punkte, die ich kritisiert habe, wurden aufgegriffen und anerkannt, dass es dazu künftig eine andere Einschätzung geben muss“, sagte die Sozialpädagogin in Erfurt. Sie gehört keiner Kirche an, diese Mitgliedschaft war in der Ausschreibung für eine Referentenstelle neben der fachlichen Qualifizierung aber vorausgesetzt worden. Daraufhin machte die Klägerin eine Diskriminierung aufgrund der Religion geltend.
Das Bundesarbeitsgericht gab ihr Recht. Die Diakonie habe die Klägerin benachteiligt, hieß es in der mündlichen Begründung des Urteils. Die Vorsitzende Richterin Anja Schlewing führte aus, dass die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) formulierte Ausnahme, nach der Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber ein Bekenntnis zur Voraussetzung machen dürfen, in diesem Fall keine Anwendung gefunden habe.
Hintergrund ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dem Fall. Die Luxemburger Richter hatten im April entschieden, dass die Anforderung einer Kirchenmitgliedschaft im konkreten Fall „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sowie gerichtlich überprüfbar sein müsse. Dieses Urteil war laut Schle­wing nun maßgeblich für das Bundesarbeitsgericht. Man habe im vorliegenden Fall erhebliche Zweifel an der Wesentlichkeit der beruflichen Anforderung gehabt, erklärte die Richterin.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßte das Erfurter Urteil. Dieses schaffe mehr Gerechtigkeit. „Gut, wenn bei verkündigungsfernen Tätigkeiten auch für kirchliche Arbeitgeber nur noch die Eignung und Qualifikation zählen darf und nicht mehr so etwas sehr Persönliches wie der Glaube. Das hat das BAG jetzt bestätigt“, sagte Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. „Wir fordern die Kirchen auf, die Zeichen der Zeit zu erkennen und endlich auch in ihren Betrieben weltliches Arbeitsrecht anzuwenden“, erklärte Bühler.

Gang nach Karlsruhe nicht ausgeschlossen

Diakonie und Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) rea­gierten hingegen enttäuscht auf das Urteil. „Dieses Urteil kann uns nicht zufriedenstellen“, sagte Dia­konie-Präsident Lilie. Die Erfurter Entscheidung habe „das Zeug zum Grundsatzurteil“. Er rechne nun für die Diakonie mit erheblichen Konsequenzen. EKD und Diakonie werten das Urteil als „Abweichung zur langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“. Sie wollen nun Begründung und Konsequenzen prüfen. Dazu gehöre auch die Prüfung, „ob gegen den Eingriff in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht das Bundesverfassungsgericht angerufen wird“. epd/UK