Die Jugend verlässt den Balkan. Aktuellen Angaben zufolge lebt fast jeder dritte Nordmazedonier im Ausland, in Bosnien-Herzegowina ist es jeder zweite. Beobachter sehen als Ursache nicht nur den fehlenden wirtschaftliche Aufschwung.
In einigen Balkan-Ländern kursiert seit Jahren ein zynischer Witz: Wie man in der Region Werbung für Deutschland und Österreich mache? Der Aufruf des Tourismusbüros würde wohl lauten: “Schauen Sie vorbei, Ihre Kinder sind schon hier!”
Zum Lachen ist Sofija Todorovic allerdings nicht zumute. Wenn die Menschenrechtsaktivistin aus Belgrad an den bevorstehenden Internationalen Tag der Jugend (12. August) denkt, kommt ihr eher das Wort “Krise” in den Sinn. Die Balkan-Region litt in den vergangenen Jahren stark unter der Abwanderung der jüngeren Generation. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung lebt fast jeder dritte Nordmazedonier inzwischen im Ausland. Noch schlimmer sei die Situation in Albanien und Bosnien-Herzegowina, wo der Anteil der Ausgewanderten an der Gesamtbevölkerung knapp 42 bzw. 50 Prozent ausmache.
Die Bundeszentrale macht auf den Umstand aufmerksam, dass die Ausgewanderten entscheidend zum Unterhalt ihrer Familien in der Heimat beitragen. “In allen westlichen Balkanländern, mit Ausnahme von Nordmazedonien, machen Rücküberweisungen etwa zehn Prozent im Verhältnis zum BIP aus.” Dennoch ist Todorovic überzeugt: “Uns fehlen diese klugen Köpfe. Ohne diese weltoffenen, talentierten, kreativen, hart arbeitenden und EU-orientierten Menschen steht auch die Zukunft der jeweiligen Länder in Frage.” Die junge Serbin ist Direktorin der Youth Initiative for Human Rights. Das Netzwerk mit Büros in Serbien, Kroatien, Montenegro, Kosovo und Bosnien-Herzegowina vernetzt Jugendliche über Landes- und ethnische Grenzen hinaus.
“Die Regierung sollte weniger Gebäude aus dem Boden stampfen und mehr in die Köpfe investieren”, sagt ein Taxifahrer in der kosovarischen Hauptstadt Pristina. Er ist nicht älter als 30, so wie etwa die Hälfte seiner Landsleute; gar jeder dritte Kosovare ist unter 18. Zugleich herrscht in dem Land, das sich 2008 für unabhängig erklärte, eine Jugendarbeitslosigkeit von 19 Prozent. Unterdessen fragen sich zunehmend mehr junge Kosovaren: Wieso für einen Monatslohn von etwas mehr als 500 Euro arbeiten, wenn man in Wien, Berlin oder Basel mehr als das Vierfache verdient? An Angeboten für Deutschkurse mangelt es in Pristina nicht.
In Belgrad kennt Aktivistin Todorovic das Problem. Dennoch meint sie, dass wirtschaftlicher Aufschwung allein das Problem der Abwanderung nicht löst – und macht auf ein Problem aufmerksam, das im Westen oft übersehen werde: “Die größte Herausforderung für junge Menschen in der Region ist Unsicherheit. Sie stammt von einem Vertrauensmangel in die Institutionen und fehlender Rechtsstaatlichkeit in den Ländern. Das bereitet ihnen Sorge.”
Tatsächlich bleibt die politische Lage auf dem Balkan 30 Jahre nach den Jugoslawienkriegen prekär. Serbien streitet mit Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Kroatien, Kroatien mit Montenegro, und auch zwischen Nordmazedonien, Albanien und Griechenland kochte die Stimmung zuletzt hoch. Es geht um Nationalismus, Vergangenheitsbewältigung und die Rechte politischer Minderheiten. Die Probleme sind alt, die Drohungen aktuell. “Junge Leute wollen nicht in einem Land leben, in dem die Nachrichten täglich von einem Krieg berichten, der ausbrechen könnte. Sie wollen nicht in einem Land leben, in dem das Klima von Gerüchten geprägt ist, dass jeder gegen uns arbeite und wir uns ständig verteidigen müssten”, sagt Todorovic.
Ein eigenes Kapitel sei ihre Heimat Serbien. Dort komme zu allgegenwärtigem Nationalismus die autoritäre Regierung von Präsident Aleksandar Vucic hinzu. Sie übt weiten Einfluss auf die Justiz, Medien und die serbisch-orthodoxe Kirche aus. Dabei bediene auch sie sich des unausgegorenen Vielvölkerkonstrukts auf dem Balkan. Todorovic wirft den Regierenden vor, das “Trauma, das in der Region noch immer herrscht”, für politische Zwecke zu missbrauchen.
Was tun, damit junge Südosteuropäer bleiben und mit ihrer jugendlichen Energie helfen, ihr Land aufzubauen? Es brauche mehr Rechtsstaatlichkeit und weniger Nationalismus, meint Todorovic. Ihre Initiative setze daher auf politische Bildung, biete eine alternative Sicht auf die Dinge: “Wir zeigen, dass Frieden in der Region möglich ist, dass wir mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern zusammenarbeiten können. Und dass man die Erfahrung der Vergangenheit nicht als Waffe gegen unsere Nachbarn einsetzen muss, sondern sie auch ein Werkzeug für den Frieden sein kann.”