Am Samstag, 14. September, wenn die kleine Stadt Strasburg in der Uckermark ihr Stadtfest feiert, wird Barnim Rödiger wieder Kniebundhosen und weiße Strümpfe anziehen, seinen Wollmantel überwerfen und einen dreieckigen Hut aufsetzen. „Herr Hugenott“ ist er dann. Und taucht als Stadtführer ein in eine Zeit, die Strasburg so nachhaltig geprägt hat wie kaum eine andere: jene Zeit vor 333 Jahren, als „die Hugenotten“ kamen; etwa 300 protestantische Christen und Christinnen, die in ihrer Heimat Frankreich Verfolgte waren.
„Die Hugenotten haben Strasburg praktisch gerettet“, sagt Rödiger, ein Archäologe, der seit zwei Jahren das Heimatmuseum der Stadt leitet. Strasburg habe nach mehreren Kriegen und Stadtbränden völlig am Boden gelegen. „Von den früher mal 2000 Einwohnern lebten nur noch 30, 40“, erzählt er. Die Stadt war geplündert und von Seuchen gebeutelt, dringend angewiesen auf neue Kräfte und Ideen.
“Die Hugenotten waren keine Wirtschaftsflüchtlinge”
Die Einwanderung geschah gezielt: „Der damalige Kurfürst hat mit zwei der Geflüchteten ausgehandelt, wo sich wieviele ansiedeln dürften.“ Und welche Rechte und Pflichten sie haben würden. Klar war: Die Neuen bräuchten eine Kirche. „Die Hugenotten waren ja keine Wirtschaftsflüchtlinge“, sagt Rödiger. „Sie flohen, weil sie sich von den reformatorischen Ideen hatten begeistern lassen und auf keinen Fall davon lassen wollten!“
In dem Versuch, den katholischen Glauben als den einzig wahren zu erhalten, hatte der französische König begonnen, Männer des neuen Glaubens auf Galeeren zu schicken und Frauen in Klöster zu sperren. „Aber diese Menschen waren bereit, für ihren Glauben alles aufzugeben“, sagt Rödiger. Mehrere Zehntausend traten damals die Flucht an und landeten in Brandenburg, Ostpreußen, Dänemark oder anderen Regionen. „Man muss sich klar machen: Der Glaube hatte für die Menschen damals eine ganz andere Bedeutung als heute“, sagt Barnim Rödiger. Im 16./17. Jahrhundert, als Luther und Calvin ihre Thesen bekannt machten, sei der Tod für alle noch sehr präsent gewesen. „Man fühlte sich dieser Macht ausgeliefert. Und der Glaube war die einzige Sicherheit, die man ihm entgegensetzen konnte.“
Teil des Rathauses wurde zur Kirche
Strasburg brauchte nun also einen zweiten Gottesdienstraum – und erklärte einen Teil des Rathauses zur Kirche. „Das war deutschlandweit einmalig“, weiß Rödiger. Und ein kluger Schachzug. „Das Rathaus war teilweise ausgebrannt. Die Hugenotten bauten es nun wieder mit auf.“ Auch vieles andere, was für die Einwohner nützlich war, brachten sie mit: ihre Schreib-Kompetenz, ihre Bildung, ihre Handwerkskunst, ihre Gartenkultur… „Sie haben nicht nur Weizen und Wintergetreide angebaut, wie in Brandenburg üblich, sondern auch Salat, Brokkoli, Spargel, Blumenkohl, Erbsen, Bohnen – was man hier noch gar nicht kannte“, erzählt Rödiger. Außerdem viele Obstsorten. „Bis heute werden bei uns Birnensorten angebaut, die auf die Hugenotten zurückgehen.“ Dann noch das viele Gebäck aus weißem Mehl: Brötchen, Baguettes, Franzbrötchen, Waffeln und mehr.
Allerdings, Spannungen gab es auch zwischen den Alteingesessenen und den Neubürgern, „weil die Hugenotten Privilegien genossen“, sagt Rödiger. Mit dem Kurfürsten hatten sie etwa ausgehandelt, dass sie in den ersten zehn Jahren keine Steuern zahlen müssten. Sie bekamen Baumaterialien gestellt. Und die Meister eines Handwerks, darunter Weber, Teppichknüpfer und Bäcker, mussten sofort in die Zünfte aufgenommen werden.
“Die Integration größerer Gruppen braucht Zeit”
Auch sprachlich blieb zunächst eine Grenze. „Bis 1830 wurden die Kirchenbücher auf Französisch geführt“, erzählt Rödiger. Er selbst hat sich inzwischen intensiv mit Migrationsgeschichte beschäftigt und ist überzeugt: „Die Integration größerer Gruppen braucht immer Zeit. Oft drei, vier Generationen.“ Für Städte sei Zuwanderung aber normal: „Es ist das Wesen der Stadt, dass sie immer wieder neue Menschen und Ideen anzieht.“
Aus Strasburg ist die französisch-reformierte Gemeinde heute verschwunden. Das Rathaus der Stadt und damit die Kirche der Hugenotten ist 1945 abgebrannt. Der letzte Pfarrer ging 1974 in den Ruhestand. Nur das Pfarrhaus steht noch, und manche Einwohner haben hugenottische Vorfahren. Seit ein paar Jahren, sagt Barnim Rödiger, wächst in Strasburg auch wieder das Bewusstsein für diese Wurzeln. „Die Menschen sind zunehmend stolz darauf.“ Die Stadt erwägt sogar, sich umzubenennen: in „Hugenottenstadt Strasburg“.
Herr Hugenott führt am 14. September 2024 um 14:30 und um 18:30 durch Strasburg. Treffpunkt ist an der Bühne des Festplatzes.