Das Kriegsende 1945 bedeutete für Millionen Ostdeutsche den Verlust ihrer Heimat, auch für die Vorfahren des Regensburger Bischofs. Dass mit “ethnischen Säuberungen” weiter Politik gemacht wird, findet er unbegreiflich.
Auf den Sudetendeutschen Tagen ist der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer (65) ein gerngesehener Gast. Die Landsmannschaft hat den gebürtigen Münchner gleichsam eingemeindet. Das hat einen persönlichen Hintergrund. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) schaut Voderholzer auf ein Kapitel seiner Familiengeschichte innerhalb des Menschheitsdramas Flucht und Vertreibung.
Frage: Herr Bischof, Sie gelten als Egerländer, dabei sind Sie in München geboren. Wie kommt das?
Antwort: Das liegt daran, dass die Familie meiner Mutter aus Kladrau im Kreis Mies stammt. Darüber hinaus hatte ich einen sehr guten Religionslehrer, der stammte aus Waltsch, tschechisch Valeč, das ist hinter Karlsbad. Der hat seine sudetendeutsche Herkunft nie verleugnet, obwohl er ein Kosmopolit war. Ich habe ihn verehrt. Das alles hat sich herumgesprochen, deshalb werde ich von den Sudetendeutschen als Landsmann betrachtet. Dagegen habe ich nichts, ganz im Gegenteil.
Frage: Sie waren noch nicht auf der Welt, als Ihre Mutter ihre Heimat verlassen musste. Wann hat Sie Ihnen das erste Mal davon erzählt?
Antwort: Ich kann mich nicht an einen bestimmten Tag erinnern. Das Thema war allgegenwärtig, besonders wenn wir an Wochenenden und in den Ferien bei meinen Großeltern auf dem Land waren, im Kreis Wasserburg. Da hatte meine Mutter für ihre Eltern von ihrem ersten Ersparten ein Häuschen erworben. Meine Mutter ist der Vertreibung durch Flucht zuvorgekommen. Meine Großmutter wurde mit ihren drei minderjährigen Buben – der Großvater war noch in Kriegsgefangenschaft – am 19. Juni 1946 förmlich rausgeschmissen. Ich habe dazu noch einen Auszug aus dem Kirchenbuch von ihr mit dem Datumsstempel darauf.
Frage: Welche Details dieser Geschichte bewegen Sie bis heute?
Antwort: Dass man in der Früh um 6 Uhr mit 30 Kilo Gepäck antreten musste. Und dass das Wertvolle, was da noch drin war, auch noch aussortiert und weggenommen wurde. Das gerettete Essbesteck war bis zuletzt bei meinen Großeltern in Gebrauch, wie auch das zerlesene Gebetbuch und andere religiöse Zeichen. An solchen Sachen haben sie sich festgehalten.
Frage: Und Ihre Mutter?
Antwort: Meiner Mutter drohte die Deportation in ein Arbeitslager ins Landesinnere. Im Winter nach Kriegsende entschloss sie sich mit einer kleinen Gruppe abzuhauen. Ich weiß nur von einem abenteuerlichen nächtlichen 40-Kilometer-Marsch. Wäre sie erwischt worden, hätte sie das ihr Leben kosten können. Über weitere Details wurde nicht gesprochen. Das verstehe ich auch. Weil es zu schmerzhaft war. Wer heute kriegstraumatisiert ist, kann zumindest auf psychologische Hilfe hoffen, daran war damals nicht zu denken.
Frage: Konnte Ihre Großmutter jemals wieder zurück?
Antwort: Nein. Sie ist 1986 gestorben. Ich glaube, keine zehn Pferde hätten sie mehr zurückgebracht. Meine Mutter war 1982 oder 1983 zum ersten Mal drüben. Später bin ich mit ihr, solange sie gelebt hat, jedes Jahr zum Patrozinium der Schlosskirche nach Kladrau gefahren und habe dort die Messe gefeiert. In der Pfarrkirche, wo sie getauft worden war, haben wir am Nachmittag eine Andacht mit Tauferinnerung gehalten, auch die Gräber besucht und für die Verstorbenen gebetet. Wir haben Bekannte und entfernte Verwandte getroffen. Meine Mutter hat sich sehr früh mit der Situation abgefunden und ihre volle Kraft in den Aufbau einer neuen Existenz investiert. Erst im höheren Alter wurde ihre Wehmut stärker.
Frage: Gibt es noch deutsche Gräber in Kladrau?
Antwort: Ja. Es gibt einige Initiativen zu ihrem Erhalt. Das wird mittlerweile auch von tschechischer Seite positiver gesehen. Viele stehen auf dem Standpunkt: Irgendwann müssen die Steine reden.
Frage: Wie ging es Ihnen selbst als nachgeborenes Flüchtlingskind?
Antwort: Also das Wort Flüchtling hat meine Mutter gar nicht gemocht, das klang damals schon abwertend. Sie ist zwar geflohen, aber sie war Heimatvertriebene. Liebend gern wäre sie zurückgekehrt, wenn sie gedurft hätte. Dem stand eine von langer Hand geplante ethnische Säuberung entgegen, wie man heute sagen würde. Dass die Leute, die jetzt in dem Haus der Großeltern wohnen, das ordentlich hergerichtet haben, tut gut zu wissen. Was mich heute beschäftigt, ist die Rolle der Kirche. Sie ist ja damals auch in den Strudel des Nationalismus hineingeraten; das war kein Ruhmesblatt. Sie hat aber eine große Aufgabe: Für ein Europa der Regionen zu werben auf der Basis eines Glaubens, der die Kraft zur Versöhnung schenkt.
Frage: Die Heimatvertriebenen wurden von ihren Landsleuten im Westen oft nicht gerade freundlich empfangen.
Antwort: Meine Familie konnte sich nicht beklagen. Sie wurde gut aufgenommen. Man muss sich vor Augen halten, dass die Leute damals gar nicht informiert waren, warum da jetzt diese Menschen zu ihnen kommen und nicht wieder zurückgehen. Das Land insgesamt war ja am Ende. Jeder hatte vollauf damit zu tun zu schauen, wie er zurechtkommt. Stalin hat in der systematischen Zwangsaussiedlung eine Waffe gesehen. Er wollte die Aufnahmegesellschaft destabilisieren. Letztlich ist es ein Wunder, dass die Integration so vieler gelungen ist.
Frage: Grenzen willkürlich und gewaltsam verschieben, gemischte Siedlungsgebiete ethnisch säubern, wie es immer noch beschönigend heißt, sind weiterhin Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen, von Putins Angriff auf die Ukraine bis zu Trumps Plänen für den Gaza-Streifen. Ihr Kommentar dazu?
Antwort: Das ist bestürzend und völlig unbegreiflich.
Frage: Lässt sich aus der Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen etwas für die aktuelle Migrationspolitik lernen?