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Verbot erhitzt die Gemüter

Behindertenbeirat und Körperbehindertenverband fordern Mitnahme von „E-Scootern“ in Bus und Bahn. Verkehrsunternehmen verweisen auf Sicherheitsprobleme bei der Beförderung

Die gehbehinderte Frau hat sich mit ihrem „E-Scooter“, einem elektrisch angetriebenen Fahrzeug als Hilfsmittel, das ihre Krankenkasse bewilligte, auf den Weg gemacht. Sie hat einen Termin bei ihrer Fachärztin. Es ist kalt, als sie an der Haltestelle auf den Bus wartet. Der kommt zwar pünktlich, doch fährt er ohne sie weiter. Kein Einzelfall.

Manfred Liebich (Gelsenkirchen), Mitglied im Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK), der dieses Beispiel am Telefon erzählt, ist erregt. Denn Menschen mit einer Gehbehinderung, die wie die genannte Frau zur Fortbewegung einen E-Scooter nutzen, haben seit Kurzem

Gutachten veranlasste Verkehrsbetriebe zu Verbot

ein Problem. Seit Januar untersagen es kommunale Verkehrsunternehmen in Nordrhein-Westfalen, die elektrisch angetriebenen drei- und vierrädrigen Fahrzeuge mitzunehmen. Auch in Bremen und Niedersachsen gilt ein solches Verbot im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Betroffen von dem Verbot, das Liebich wegen der Nichtbeachtung der geltenden Beförderungspflicht im ÖPNV schlicht für rechtswidrig hält, sind nach seiner Schätzung allein in Nordrhein-Westfalen rund 30 000 Menschen.

Das Verbot erhitzt die Gemüter auch im Landesbehindertenbeirat Nordrhein-Westfalen. Der fordert in einer Resolution vom 9. Januar, die Mitnahme der E-Scooter, die auch von den Krankenkassen als Hilfsmittel für Gehbehinderte anerkannt werden, im ÖPNV „ab sofort“ sicherzustellen. Zudem wird die Landesregierung in der Resolution aufgefordert, die finanziellen Zuwendungen des Bundes und des Landes an die Anforderungen der Mobilitätsgarantie bei Nutzung von anerkannten Hilfsmitteln zu binden. Der Beirat verweist auf die Verpflichtung Deutschlands durch die Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention, „die persönliche Mobilität von Menschen mit Beeinträchtigungen mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen“. Der Landesbehindertenbeauftragte Norbert Killewald begrüßt den Beschluss, den er als „breiten Schulterschluss“ im Landesbehindertenbeirat sieht.

Ungeachtet dessen begründen die Verkehrsunternehmen ihre Haltung mit „erheblichen Sicherheitsrisiken“ für die Nutzer selbst und andere Fahrgäste durch EScooter in Bussen und Bahnen insbesondere bei Bremsmanövern und durch mögliches Umkippen der Gefährte etwa bei Kurvenfahrten. Sie verweisen dabei auf ein entsprechendes, im Auftrag des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) erstelltes Gutachten der Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen (STUVA) in Köln.

„E-Rollis“ vom Verbot ausgeschlossen!

Von UK nach dem ausschlaggebenden äußeren Anlass befragt, verweist Lars Wagner, Pressesprecher des VDV, der seinen Sitz in Berlin hat und nach eigenen Angaben bundesweit rund 600 Unternehmen des ÖPNV und des Schienengüterverkehrs vertritt, auf „einige Unfälle“ in Nordrhein-Westfalen mit E-Scootern in Bussen Anfang 2014. Daraufhin habe das NR W-Verkehrsministerium einen Runden Tisch einberufen, bei dem auch die Behindertenverbände beteiligt waren. Und dort sei auch das daraufhin erstellte, im April/ Mai bei einer zweiten Sitzung des Runden Tisches vorgelegte Gutachten besprochen worden, das jetzt zum Verbot führte. Es zu missachten, bedeute für Unternehmer, Betriebsleiter und Fahrer, „in der Haftung zu sein, wenn etwas passiert“, erläutert Wagner.

Haftbar gemacht werden könne aber auch der E-Scooter-Nutzer selbst, sofern er während einer Bus- oder Bahnfahrt auf seinem Gefährt sitzen bleibe, sagt Wagner mit Hinweis auf die Bedienungsanleitungen. Demnach dürften die Gefährte „nicht als Fahrzeugsitz in anderen Fahrzeugen“ genutzt werden.

Der VDV-Sprecher bedauert die „unpopuläre Entscheidung, nicht zuletzt sei der ÖPNV doch „Teil der Daseinsvorsorge“. Dennoch rechnet Wagner unter den gegebenen Umständen nicht mit einer baldigen Aufhebung des Verbots. Vorrangig sei nun mal, die Sicherheit „aller Fahrgäste“ zu gewährleisten, betont er.

Das Hauptproblem sieht Wagner in den für den Platzbedarf von E-Scootern nicht ausgelegten Abstellflächen in Bussen und Bahnen. Erschwerend hinzu komme, dass E-Scooter, von denen es nach seiner Aussage über 400 Typen von rund 60 verschiedenen Herstellern gibt, „nicht genormt und standardisiert“ seien – anders als die darum von dem Verbot ausgenommenenen Elektro-Rollstühle, die sogenannten E-Rollis. Um zu verhindern, dass in Umsetzung des Verbots E-Rolli-Nutzer aus Unkenntnis ebenfalls nicht mitgenommen werden, legt Wagner den Verkehrsbetrieben nahe, ihr Fahrpersonal entsprechend zu informieren.

In der Pflicht bei der Lösung des Problems sieht Wagner zum einen

Neue Studie soll bald Klarheit bringen

die Krankenkassen. Die müssten E-Rollis den Vorzug geben, auch wenn die mit Preisen ab 5000 Euro deutlich teurer seien als E-Scooter, die schon zu Preisen ab 1500 Euro erhältlich seien. Zum anderen solle der Gesetzgeber die E-Scooter- Hersteller in die Pflicht nehmen, um eine Normung zu erreichen.

Zwischenzeitlich hat das NR WGesundheits- und Verkehrsministerium eine neue Studie in Auftrag gegeben, um zu prüfen, ob „unter den derzeitigen Rahmenbedingungen“ eine sichere Mitnahme von E-Scootern dennoch möglich ist oder welche Schritte dazu nötig wären. Sie soll allerdings erst „in wenigen Monaten“ vorliegen, wie es heißt.

Der Körperbehindertenverband BSK empfiehlt Betroffenen einstweilen, sich sicherheitshalber beim jeweils zuständigen Verkehrsbetrieb zu informieren. Auch weil es bei der Umsetzung des Verbots immer wieder vorkommt, dass in Bussen und Straßenbahnen auch E-Rollis nicht mitgenommen werden.

Für Menschen wie die von Liebich als Beispiel genannte gehbehinderte Frau, die letztlich vergebens an der Bushaltestelle wartete, ist das kaum ein Trost. Denn das Beförderungsverbot macht den als Hilfsmittel gedachten EScooter in der Alltagspraxis zu einem zusätzlichen Hemmnis. Ein Stück Freiheit, das damit zunächst gewonnen war, geht so wieder verloren – auf zunächst unbestimmte