Vor einem dreiviertel Jahr, am 19. Dezember 2022, einigte sich die Weltgemeinschaft bei der Artenschutzkonferenz im kanadischen Montreal auf das wegweisende 30×30-Ziel: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz gestellt werden. Was ist aus diesem Ziel geworden? Wo gibt es Fortschritte, wo Rückschläge? Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) zieht der Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) und Träger des Deutschen Umweltpreises 2022, Christof Schenck, eine teilweise ernüchternde Bilanz.
epd: Vor einem Dreivierteljahr hat sich die Staatengemeinschaft auf das Ziel verständigt, 30 Prozent der Meeres- und Landgebiete bis 2030 unter Schutz zu stellen. Was hat sich seitdem getan?
Schenck: Das Thema Artenschutz muss jetzt ganz oben auf der Agenda bleiben – da sehen wir es aber nicht unbedingt. Wir sehen einen weiter fortschreitenden Artenverlust. Natürlich hätte man jetzt nicht erwartet, dass da in wenigen Monaten die Trendumkehr eingeläutet wird. Aber dass es sich weiter so schnell beschleunigt und verschlechtert, ist auf jeden Fall ganz, ganz schlecht! Ich kenne auch keinen einzigen neuen Nationalpark seit dem Abkommen von Montreal, obwohl mehrere in der Pipeline sind, die man längst – auch in Deutschland – schon hätte fertigstellen können. Aber gleichzeitig wurden Nationalparks in diesem Zeitraum aberkannt.
Wo auch nichts groß zu sehen ist, ist bei den Mittelzusagen von Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte 2022 angekündigt, die Biodiversitätsmittel, die so unglaublich wichtig sind, bis 2025 global zu verdoppeln auf 1,5 Milliarden Euro. Man würde davon ausgehen, dass dies ab der Zusage stufenweise passiert und die Mittel nicht am 1.1.2025 vom Himmel fallen. Das sehe ich aber bisher gar nicht. Vielmehr sinkt sogar zum Beispiel der Etat beim Bundesentwicklungsministerium, dort, wo solche Mittel eigentlich angesiedelt sind. Das heißt, das Gegenteil passiert.
epd: Gibt es denn auch ermutigende Entwicklungen?
Schenck: Die Staaten sind angehalten, die Ziele von Montreal in eine nationale Biodiversitäts-Strategie zu gießen. Deutschland ist dabei, die Bundesregierung hat einen Entwurf vorgelegt. Das ist schon mal gut und richtig! Diese Strategie ist auch außerordentlich ambitioniert, hat viele von den Punkten von Montreal aufgegriffen. Sie ist aber unscharf, es sind wenig richtig konkrete, bezifferbare, messbare und nachvollziehbare Aktivitäten und Wirkungen in dieser Strategie zu sehen. Das ist natürlich ein Problem! Für Deutschland ist das Ziel von 30 Prozent der Landesfläche unter echtem Schutz völlig unrealistisch – das ist undenkbar in einem so dicht besiedelten Land. Deswegen wäre es wichtiger, dass man andere Ziele angeht, nämlich zehn Prozent streng zu schützen und zwei Prozent Wildnis zu lassen, und dann aber seinen Verpflichtungen international nachkommt, indem man die besonders artenreichen Tropenregionen stärker unterstützt.
epd: Wo gibt es noch Probleme?
Schenck: In einem weiteren Punkt des Montreal-Abkommens gibt es noch keine richtig gute Entwicklung: Das ist der Abbau der umweltschädlichen Subventionen. Das sind weltweit 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr. In Deutschland sind es 65 Milliarden Euro und da sehen wir nichts an Abbau! Da geht es um die Flieger mit ihrem günstigen Kerosin, die Landwirtschaft, auch das Dienstwagen-Privileg gehört dazu. Alle, die diese Subventionen bekommen, müssen sich darauf einstellen, die Subventionen kann man ja nicht von heute auf morgen einfach weglassen. Da braucht man einen Pfad, wo man sagt, so können wir das reduzieren. Den sehen wir aber nicht.
epd: Sie haben eingangs Gebiete erwähnt, deren Schutzstatus aufgehoben wurde seit Montreal, und andere, die geschützt werden könnten. Welche sind das?
Schenck: Tansania hat beispielsweise den Nationalpark-Status von Kigosi aberkannt. Und zudem hat die tansanische Regierung auch vom Ruaha-Nationalpark ein Stück abgetrennt. Von den Gebieten, die in der Pipeline für zukünftige Nationalparke stehen, gibt es viele weltweit, auch in Deutschland. Wir haben den Steigerwald in Bayern oder den ehemaligen Truppenübungsplatz Lieberose in Brandenburg und noch zahlreiche andere Gebiete, die nationalparkwürdig und -reif sind. Es ist nicht verständlich, warum man bei den gesetzten Zielen nicht viel schneller vorankommt in Deutschland.
epd: Wie wird sich das vor wenigen Wochen beschlossene EU-Renaturierungsgesetz auswirken?
Schenck: Es ist sehr gut, dass das Gesetz verabschiedet ist – es stand ja Spitz auf Knopp. Insgesamt sind EU-Gesetze schon strenge Gesetze, weil sie auf der nationalen Ebene umgesetzt werden müssen. Im Detail haben die Länder eine gewisse Souveränität, aber das Ziel muss erreicht werden und das ist schon mal gut! Die Schwierigkeit ist, das gibt es nicht umsonst. Man sollte das nicht Kosten nennen, sondern Einsparungen auf künftige Kosten, die viel höher ausfallen.
Ein Beispiel: Wenn wir hier in Deutschland Moore renaturieren, dann ist das außerordentlich hilfreich als CO2-Speicher, wenn man es richtig macht. Alles, was uns im Moment CO2 reduziert aus der Atmosphäre, ist extrem wichtig und kostensparend für die Zukunft. Von daher ist das gut und richtig, Deutschland hat auch viel Geld für den natürlichen Klimaschutz wie die Moorwiedervernässung eingestellt, aber da haben wir gewaltige Probleme mit dem Privateigentum, weil man das auf staatlichen Flächen allein nicht ausreichend hinbekommen wird.
epd: Welche Konsequenzen hat das?
Schenck: Das heißt, man wird mit diesen privaten Eigentümern für sie attraktive Lösungen finden müssen. Andererseits muss man aber natürlich auch sehen: Da waren Moore, die haben eine Leistung für die Gesellschaft erbracht, die wurden trockengelegt, um einen privaten Profit zu erzeugen. Das kann man auch nicht ganz unberücksichtigt lassen! Von daher muss man da schon Kompromisse eingehen, aber so ein reiches Land wie Deutschland sollte wirklich in der Lage sein, das EU-Renaturierungsgesetz durchzusetzen. Moore sind nämlich auch enorm wichtige Wasser-Rückhaltegebiete sowohl für Flutzeiten als auch für Trockenperioden. Sie speichern Wasser für die Trockenzeiten, von der Verdunstung profitiert auch das umliegende Gebiet. Und umgekehrt, wenn es besonders stark regnet, dann sind das extrem wichtige Gebiete für die Wasser-Rückhaltung. Da müssen wir viel schneller viel besser werden und nicht mehr Flächen versiegeln, sondern Speicher für Wasser und für CO2 bauen. Momentan leiten wir keine Trendumkehr ein und das ist fatal!