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Stress lass nach

Endlich Sommerurlaub! Doch statt Entspannung geht bei vielen Menschen der Stress jetzt erst richtig los: Der Schreibtisch soll abgearbeitet, die Wohnung geputzt, die Wäsche gewaschen sein. Bei aller Vorfreude auf die Auszeit wächst der Stresslevel. „Es ist paradox: Man will entspannen und zeitgleich alles optimal für den Urlaub vorbereiten. Noch dazu soll im und nach dem Urlaub alles besser werden“, sagt Nicole Plinz, Therapeutische Leiterin der Tagesklinik für Stressmedizin der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg. Damit die Zeit rund um den Urlaub entspannter wird, seien eine gute Organisation, ein großzügiger Umgang mit den Wünschen anderer oder auch ein „Puffer“ von freien Tagen zwischen Arbeits- und Reisezeit sinnvoll.

Ein weiteres Problem seien zu hohe Erwartungen, sagt Plinz. „Überall bekommen wir vorgehalten, wie der perfekte Urlaub zu sein hat, wie glücklich und aufregend er werden muss.“ Apps wie Instagram oder Tiktok haben vor allem unter jungen Menschen den Wettbewerb um die besten Ziele verschärft. „Auch im Urlaub erschwert Social Media die Erholung“, sagt die 59-jährige Psychologin. Nicht nur wegen des Drucks, sich möglichst schön zu präsentieren, sondern weil bei vielen Aktivitäten der Gedanke an Bild oder Bericht mehr im Vordergrund stehe als das Erlebnis selbst. Die Frage sollte sein: Erfülle ich ein Bild oder meine Wünsche?

Noch dazu soll der Urlaub „harmonisch, spannend, erholsam werden – all diese Ansprüche machen Stress“, weiß Bettina Löhberg, Oberärztin im Zentrum für Stressmedizin vom Asklepios-Klinikum in Hamburg-Harburg. Dass im und mit dem Urlaub alles anders werden soll als im Alltag, beobachtet sie auch bei ihren Patientinnen und Patienten. „Wenn der Urlaub als die eigentliche Lebenszeit gilt, dann ist das ein Problem. Denn Leben und Urlaub sind eins“, sagt die Psychiaterin.

Auch im Alltag lassen sich kleine Pausen für Entspannung und Erholung einbauen. „Dafür ist es wichtig, zu wissen, was das eigene Erleben von Erholung stärkt“, sagt Plinz. Für die einen sei es die Natur, für andere das Zusammensein mit Freunden oder Familie, Kultur, Achtsamkeitsübungen und Yoga. „Wichtig ist, solche Auszeiten nicht auf später oder eben den Urlaub zu verschieben“, rät Plinz.

Viele Menschen wünschen sich zudem das einfache Abschalten von jetzt auf gleich, weiß die Therapeutin. „Man kann aber nicht auf Knopfdruck runterfahren im Sinne von: Jetzt bin ich da, jetzt fängt der Urlaub an, ab sofort bin ich entspannt!“, sagt Plinz. Entschleunigung könne nicht beschleunigt werden.

Noch dazu leiden zahlreiche Menschen am Urlaubsanfang unter Stimmungstiefs oder werden krank. Wer im Alltag chronisch gestresst ist, bekomme in den ersten Urlaubstagen oft Migräne oder eine Erkältung, so die Barmer-Krankenkasse. Grund sind Stresshormone, die das Immunsystem gedämpft haben. Hier könne Sport und Bewegung vor der Abreise helfen, die Stresshormone abzubauen. Dagegen sind von Stimmungstiefs zu Beginn des Urlaubs oft sogenannte High-Performer betroffen, die im Alltag enthusiastisch, aktiv und zielstrebig sind. „Auch dieses Phänomen hat neurobiologische Ursachen, nach ein paar Tagen sind die negativen Gefühle und Selbstzweifel vorbei“, sagt Plinz.

Für die Therapeutinnen Plinz und Löhberg kommt „Urlaub“ nicht zuletzt von „Erlaubnis“: Sich einmal am Tag erlauben, unproduktiv zu sein. Heute werde es oft „me-time“ (Ich-Zeit) genannt. Hier gehe es aber nicht um die Steigerung von „me“, zudem stecke darin schon wieder, dass die Zeit einen Sinn haben muss. Gemeint sei planloser Müßiggang, am besten jeden Tag für einige Minuten. Und nicht zuletzt könne man sich den Urlaub ganz einfach in den Alltag holen. Plinz: „Wer sich Sehnsuchtsorte auch einfach nur vorstellt, kann sein Gehirn überlisten und sich jederzeit an einen Urlaubsort beamen.“