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Schweitzer: Über Migration diskutieren “ohne Schaum vor dem Mund”

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) sorgt sich um die politische Kultur in Deutschland. Er fürchtet Entwicklungen wie im Nachbarland Frankreich. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt der Mainzer Regierungschef, was gegen die wachsende Polarisierung der Gesellschaft getan werden kann.

epd: Herr Ministerpräsident, die Stimmung in Deutschland ist aktuell nicht gut. Gibt es Dinge, aus denen Sie jetzt in der Adventszeit trotz aller Krisen Hoffnung schöpfen?

Schweitzer: Ich finde, man muss als Politiker immer Hoffnung haben. Und ich trage die auch unabhängig von Stimmungslagen in mir. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich sehr stark spüre, dass diese Hoffnung begründet ist. Gerade etwa hat unser Landtag zusammen mit Wissenschaftlern Zahlen veröffentlicht, die eine sehr, sehr hohe Zustimmung zur Demokratie belegen. Fast drei Viertel der Menschen sagen, dass wir eine Demokratie haben, in der es sich zu leben lohnt – trotz aller Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung, um den Frieden in Europa und das eigene persönliche Fortkommen.

epd: Nun steht eine Mehrheit der Menschen zwar zur Demokratie, aber die Mehrheit bei uns im Land findet beispielsweise auch, dass es nicht wirklich gerecht zugeht.

Schweitzer: Wir haben einen gesamtwirtschaftlichen Reformstau in Deutschland. Wir stehen vor großen Herausforderungen, was die Pflege angeht, die Alterssicherung oder das Thema Wohnen. Keine dieser großen Fragen wird ganz ohne öffentliche Finanzierung zu lösen sein. Wenn Menschen, die über teilweise unvorstellbar große Vermögen verfügen, im Verhältnis sehr viel weniger zur Finanzierung unserer gemeinschaftlichen Aufgaben beitragen, dann verletzt das die anderen in ihrem Gerechtigkeitsempfinden.

epd: Warum gelingt es nicht, das zu ändern? Ihre Partei, die SPD, trägt schon sehr lange Verantwortung im Bund und im Land.

Schweitzer: Auf Bundesebene führen wir erst seit drei Jahren die Regierung, davor waren wir Juniorpartner in der Großen Koalition …

epd: Immerhin …

Schweitzer: … und zwar gemeinsam mit einer Union, die sich in den letzten Jahren insbesondere auf Bundesebene von ihren sozialpolitischen Wurzeln fast gänzlich verabschiedet hat. Politiker vom Schlage eines Norbert Blüm, der all die sozialen Fragen noch aufgeworfen hat, gibt es heute nicht mehr in CDU und CSU. Unter Herrn Merz ist die CDU eine Partei, die den Neoliberalismus der 1990er Jahre wieder aufleben lässt.

epd: Die deutsche Gesellschaft scheint sich zu polarisieren. In anderen Teilen der Bundesrepublik ist die Skepsis gegenüber dem demokratischen System größer als in Rheinland-Pfalz. Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Schweitzer: Viele Menschen berichten, ihnen fehlten die Leitplanken für festgefügte, klare Verhältnisse, etwa, was Arbeitsplatzsicherheit oder Arbeitszeit angeht. Die Zahl derjenigen, die in Tarifverträgen beschäftigt sind, die Mitbestimmung im Betrieb erleben, hat in den letzten Jahren nicht zugenommen. Viele haben den Eindruck, es bräuchte mehr Gemeinsinn, mehr Zusammenhalt.

epd: Jeder ist nur noch mit sich selbst beschäftigt?

Schweitzer: Die Individualisierung ist ein Teil des Freiheitsversprechens, das die Demokratie auch gegeben hat. Aber wo Menschen das Gefühl haben, sie sitzen auf einer Eisscholle, bewegen sich durchs Meer und links und rechts von ihnen ist nicht viel, führt das zu Vereinsamung und auch zum Rückzug aus dem Bekenntnis zum demokratischen System.

epd: Was kann die Politik tun, um diesen Gemeinsinn wieder herzustellen?

Schweitzer: Politik kann mit gutem Beispiel vorangehen. Wie man Diskussionen führt, macht einen großen Unterschied. Es muss möglich sein, dass Demokraten eine harte, aber sachliche Auseinandersetzung führen und gleichzeitig die Argumente der anderen anhören und prüfen. Selbst nach einer hitzigen Debatte sollte man mit dem Gegenüber einen Wein trinken können. Ich bin froh, dass uns das in Rheinland-Pfalz noch gelingt.

epd: Die zerbrochene Bundesregierung war dafür zuletzt kein gutes Vorbild.

Schweitzer: Irgendwann einmal wird diese Ampel rückblickend betrachtet eine sehr viel bessere Bilanz vorweisen, als jetzt der Eindruck erweckt wird. Wenn schon die eigenen Ampelpartner über ihre Regierung so schlecht reden, wird natürlich niemand sonst bereit sein, auch die positiven Seiten zu sehen: Was die Ampel durchgesetzt hat in der größten Energiekrise seit den 1970er Jahren, für mehr Kindergeld, mehr Bafög und mehr Mindestlohn. Und das finde ich höchst bedauerlich. Zugleich dürfen auch keine „feindlichen Linien“ zwischen Regierung und Opposition entstehen. Wir müssen unbedingt beobachten, was zurzeit in Frankreich passiert. Dort sehen wir, wie sich wirklich schon fast feindliche Parteiblöcke von rechts und links gegenüberstehen.

epd: In einigen politischen Debatten klingen Vertreter etablierter Parteien inzwischen genauso wie Populisten, zum Beispiel beim Thema Abschiebung. Ist das eine kluge Strategie?

Schweitzer: Ich glaube, dass die Menschen zu beidem bereit sind – irreguläre Migration zu bekämpfen und trotzdem human zu bleiben, was die Integration derer angeht, die hier sind. Das alles muss ohne Schaum vor dem Mund passieren, ohne dass man die Menschen verhetzt. Manchen fällt es schwer, Grenzen zu ziehen, auch was die Sprache angeht. Ich halte das nicht für klug. Die Wähler werden sagen: Wenn ihr auch so redet, dann nehmen wir doch lieber das Original. Und es verschafft den Populisten und Extremisten das Gefühl, sie hätten jetzt den Diskurs übernommen und bestimmt.

epd: Bei unseren Nachbarn in Europa gibt es schon lange keine „Brandmauern“ gegen Rechtsaußen-Parteien mehr. Wie lange kann Deutschland seinen Sonderweg noch durchhalten?

Schweitzer: Bei allen Vergleichen mit Österreich, Frankreich, Polen oder Italien, die sich ja anbieten, dürfen wir nicht vergessen: Deutschland hat eine besondere, eine dunkle Geschichte, wenn es um Rassismus, Faschismus und Antisemitismus geht. Wir haben mit dem Naziregime ganz Europa angezündet. Da können wir nicht einfach sagen: Na gut, das ist ein Teil der europäischen Normalität.

epd: Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat vergangene Woche gefordert, die katholische Kirche müsse politischer werden, um die Demokratie zu fördern, die überall unter Druck stehe. Gerade der evangelischen Kirche wird andererseits immer vorgeworfen, dass sie zu politisch sei. Wie sehen Sie das?

Schweitzer: Als Anfang des Jahres die Deutsche Bischofskonferenz ein Papier veröffentlichte, in dem sie zum Ausdruck brachte, dass Christen keine Parteien des völkischen Nationalismus wählen könnten, hat mich das einmal positiv umgehauen. Kirchen haben nicht die Aufgabe, sich in Wahlkämpfe einzumischen. Aber sich zu positionieren, welches Menschenbild mit der christlichen Lehre vereinbar ist und welches nicht, das ist schon ihre Aufgabe.

epd: Gleichwohl werden evangelische und katholische Kirche kleiner und haben immer weniger Geld. Bei der Kita-Finanzierung wird ja beispielsweise überall zurückgeschraubt.

Schweitzer: Ich bedaure das nicht nur aus fiskalischen Gründen. Wir reden zwar immer vom Sozialstaat, aber das soziale Miteinander wird zum Glück nicht nur staatlich organisiert, sondern auch durch freie Träger wie Kirchen oder Arbeiterwohlfahrt. Wo die Kirchen sich zurückziehen, können aber oft nicht andere freie Träger in die Lücke springen, sondern kommunale oder staatliche Träger müssen einspringen. Dann fehlt ein Stück der Vielfalt.

epd: Was macht ein Ministerpräsident eigentlich in der Weihnachtszeit? Können Sie sagen: Jetzt schalte ich das Handy zwischen den Jahren ab?

Schweitzer: Nein, also das geht echt nicht.

epd: Was heißt das konkret? Werden Sie mit einem Aktenstapel auf den Knien unter dem Weihnachtsbaum sitzen?

Schweitzer: Das versuche ich zu vermeiden. Aber auch an Heiligabend lasse ich das Handy an. Wenn etwas im Land passiert, geht es nicht, dass ich das erst 24 Stunden später bemerke. Dennoch wird es natürlich schon ruhiger. An Heiligabend ist vor der Christmette die Familie bei uns zu Hause, weil bei uns dann immer das Abendessen für alle stattfindet. Und dann wird es sehr klassisch. Ich esse zu viel und bewege mich zu wenig.