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„Reformation als Weltbürgerin“

Im letzten Themenjahr „Reformation und die eine Welt“ vor dem 500. Reformationsjubiläum 2017 blicken die drei NRW-Landeskirchen auf die weltweite Verbreitung des protestantischen Glaubens. Eine Missionsgeschichte nicht ohne Schattenseiten

2016, das letzte Themenjahr vor dem 500. Reformationsjubiläum 2017, quasi die „Eingangspforte“ zu den großen Feierlichkeiten, ist dem Blick in die Weite gewidmet. „Reformation und die Eine Welt“ heißt es, und in diesem Zusammenhang wird gerne von der „Reformation als Weltbürgerin“ geredet. Durch die missionarischen Aktivitäten des 18. und 19. Jahrhunderts verbreitete sich der protestantische Glaube in der ganzen Welt. So finden wir heute auf Sumatra und in Dares Salaam in Tansania Lutherporträts in Kirchen und Sakristeien, und auf den Philippinen und in Südafrika Lutherlieder in den Gesangbüchern.
Die Reformation nahm ihren Ausgang in Westeuropa. Sie war nicht auf Wittenberg, Erfurt und Eisenach, also auf die Wirkungsstätten Martin Luthers, beschränkt. Durch Predigten, Vorträge, Bibelübersetzungen, Gottesdienstreformen und Bildungsprogramme trugen viele zum Entstehen einer reformatorischen Bewegung bei, die die Mündigkeit aller Getauften in Fragen des Glaubens und der Ethik einforderte. Der „Welteroberung“ durch den Protestantismus ging aber eine andere Geschichte voraus.  
Fünfundzwanzig Jahre vor dem Thesenanschlag Martin Luthers entdeckte Kolumbus Amerika. Die Eroberung der „Neuen Welt“ geschah durch die iberischen Mächte und damit unter römisch-katholischem Vorzeichen. Erst die protestantischen Glaubensflüchtlinge, die auf der Suche nach einer Heimstatt, in der sie ihren neuen Glauben und ihre Frömmigkeit ungehindert leben konnten, scharenweise Europa verließen, brachten reformatorisches Gedankengut in die „Neue Welt“. Puritaner, Baptisten, Quäker – ein breiter Strom protestantischer Migranten und Migrantinnen, symbolisch verdichtet im Bild der Pilgerväter, die auf der Mayflower gen Amerika segelten, auch andere religiös verfolgte Protestanten, etwa die Hugenotten, suchten neue Siedlungsräume, unter anderem in Brasilien.
Erste Ansätze zu weltweiten missionarischen Aktivitäten entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den calvinistisch geprägten Niederlanden. Anfang des 18. Jahrhunderts startete die deutsch-dänische lutherische Mission von der pietistischen Hochburg Halle (Saale) aus. August Hermann Francke, der Begründer des Halleschen Pietismus, verstand sich als ganz in der Tradition Luthers stehend, ja geradezu als Vollender der Reformation.
Die Problematik der Missionsgeschichte, die darin liegt, dass das westlich geprägte Christentum in außereuropäische Kontexte gebracht und den dort lebenden Menschen mit ihrer andersartigen Kultur zum Teil gewaltsam aufgezwungen wurde, darf beim Reformationsgedenken nicht verschwiegen werden. Die Aufarbeitung dieser historischen Hypothek beschäftigt uns bis heute. Aber in den letzten Jahrzehnten kam es zu einem neuen Miteinander zwischen den reformatorischen und den Missionskirchen.
Partnerschaften auf Augenhöhe sind entstanden, geprägt von gegenseitigem Lernen. Respekt ist dabei ein wichtiger Begriff, Akzeptanz der Andersartigkeit der anderen, Verständigung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg und vor allem Überwindung des Geber-Nehmer-Schemas. Auf dieser Basis sind Begegnungen möglich, die nach dem Verbindenden fragen. –  In der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) arbeitet unsere westfälische Kirche mit 35 Kirchen aus drei Kontinenten zusammen an Fragen von Evangelisation, Diakonie, Menschenrechten und Schöpfungsbewahrung.
Heute gibt es in allen Erdteilen protestantische Gemeinden und Kirchen. Viele sind selbstständig und ohne tiefe Beziehung zu den historischen Kirchen der Reformation entstanden. Weltweit wachsen vor allem die Pfingstkirchen in Afrika und Asien am stärksten.
Das Reformationsjubiläum 2017 findet zum ersten Mal im Zeitalter der Globalisierung und der Ökumene statt. 2016 wollen das die drei evangelischen Landeskirchen Nordrhein-Westfalens mit dem pfiffigen Motto „Weite wirkt“ bewusst machen. Die Reformation ist nicht der Beginn einer unendlichen Spaltungs- und Zersplitterungsgeschichte, sondern Ausdruck eines lebendigen Wachstums. So wie sich in der Natur Wachstum durch Zellteilung vollzieht, vollzieht sich Wachstum des Glaubens durch Veränderungen in den Formen und Strukturen der Gemeinden und Kirchen.
Das muss dem Gedanken der Einheit der „Einen Kirche Jesu Christi“ nicht zuwiderlaufen. Im gemeinsamen Bibellesen mit Christen anderer Herkunft und Sprache zum Beispiel wird deutlich, wie unterschiedlich unsere Kontexte uns prägen, aber auch, wozu wir uns als Geschwister im Glauben an den Auferstandenen, die wir uns als Teil der Schöpfung Gottes verstehen, gemeinsam gerufen sehen. Der Klimawandel ist eine der großen Herausforderungen für die gesamte Menschheit, Armut und Hunger eine weitere. Im Austausch mit Geschwistern aus der ganzen Welt suchen wir nach glaubwürdigen Antworten in Wort und Tat.
Weite wirkt befreiend, bewegend, einladend und fairwandelnd. – Und es gibt keine Alternative zu dieser Weite, denn die ganze bewohnte Erde ist Gottes Haus, das er uns anvertraut hat, um es zu bebauen und zu bewahren. In vielfältigen Projekten und im gemeinsamen Beten und Feiern mit Partnerkirchen  in aller Welt und mit Christinnen und Christen aus aller Welt hier bei uns erleben wir, wie Weite wirkt. Viele Projekte und Veranstaltungen in diesem Jahr laden dazu ein, diese Weite zu erleben. Sicher ist auch für Sie etwas dabei!

Pfarrerin Annette Muhr-Nelson ist Leiterin des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) in Dortmund.