Das Thema „Karfreitags-Tanzverbot“ sollte nach Ansicht von Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg, nicht für vermeintliche Kulturkämpfe genutzt werden. Dass es Menschen gebe, die selbst am Karfreitag feiern wollen, hänge mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend zur Beschleunigung zusammen, dem zu entgehen heutzutage kaum noch möglich sei, sagt Merle im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein stiller Tag könne dieses Phänomen zumindest für Momente unterbrechen. Menschen ohne Bezug zur christlichen Tradition könnten am Karfreitag zudem aus gegenseitigem Respekt aufs Feiern verzichten.
epd: Welchen Stellenwert hat der Karfreitag und damit das Gedenken des Leidens und Sterbens Jesu Christi heutzutage in Deutschland noch?
Kristin Merle: Angesichts der Tatsache, dass Wissen über christliche Traditionen abnimmt, muss man differenzieren: Als Tag, an dem alles in besonderer Weise öffentlich stillsteht, hat er für viele eine Bedeutung als Moment der notwendigen Unterbrechung unserer beschleunigten Lebensweise. Hinzu kommt: Auch diejenigen, die mit der näheren Bedeutung des Karfreitags nicht mehr vertraut sind, sehen, medial vermittelt, Bilder symbolischer Verdichtungen: Am Kreuz sieht man, was Menschen Menschen antun können. Das Kreuz ist ein Mahnmal für die Abgründe in uns. Ich glaube, dass Menschen davon eine Ahnung bekommen, wenn sie sich auf die Bilder einlassen. Menschen wissen um die Bedrohtheit des Lebens, und es gibt eine Sehnsucht nach Heilung und der Unterbrechung gewaltvoller Zusammenhänge.
Das Kreuz ist dann nämlich auch in seinem Bezug auf die Auferstehung ein Hoffnungszeichen, dass Verderben und Tod nicht das letzte Wort in unserem Leben haben. Das erschließt sich erst durch das Ostergeschehen. Ich glaube, dass viele Menschen von dieser Dynamik, auch wenn sie mit den klassischen christlichen Traditionen nicht mehr viel anfangen können, doch ein intuitives Verständnis davon haben, dass dem Bedenken von Leid und Tod, was Christ:innen nun an Karfreitag tun, Ernsthaftigkeit gebührt, und dass der Mensch Hoffnung braucht, um leben zu können.
Schaut man auf die Statistik der Gottesdienstbesuche, lässt sich laut aktueller Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sagen, dass 9,3 Prozent der Bevölkerung in Deutschland am Karfreitag Gottesdienste besuchen (491 aus 5250 gewichteten Fällen). Das lässt sich noch einmal spezifizieren in 14 Prozent Evangelische (EKD-Gliedkirchen), 14 Prozent Römisch-Katholische und 0,68 Prozent Konfessionslose. Regional ergibt sich folgendes Bild: Ostdeutschland 7 Prozent, protestantischer Norden 8 Prozent, gemischtkonfessioneller Westen 10 Prozent, katholischer Süden 11 Prozent. Das ist in Summe erheblich mehr, als Menschen durchschnittlich Gottesdienste besuchen – und das zeigt die Bedeutung dieses Feiertags unter Kirchlich-Religiösen an.
epd: Ist es aus theologischer Sicht vertretbar, dass Menschen am Karfreitag feiern? Was spricht dafür, was dagegen?
Merle: In theologischer Perspektive kommt man ja sinnvollerweise nicht um die Einsicht herum, dass wir in einer Situation forcierter gesellschaftlicher Pluralität leben, und das heißt eben auch: weltanschaulicher Pluralität. Warum sollten Menschen, die mit der christlichen Tradition nichts anfangen können, nicht von ihr wissen, mit Bezug auf sie ein eigenes Feier-Bedürfnis negieren? Ein Grund könnte gegenseitiger Respekt sein. Das würde bedeuten, dass wir gesellschaftlich Feiertage anderer Religionsgemeinschaften auch mit vergleichbarem Respekt behandeln. Das ist ein gesellschaftlicher Lernprozess, nicht nur Partikularinteressen zu verfolgen, sondern die eigenen Verhaltensweisen eingezeichnet zu verstehen in das Gesamt von Gesellschaft.
Ich denke, dass die Änderung der Feiertagsschutzverordnung in Hamburg mit Blick auf die zeitlichen Einschränkungen von Verhaltensregeln, die ja eben keine Aufhebung bedeutet, den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entspricht. Immerhin ist in politischen Statements im vergangenen Jahr auch der Begriff des ‘immateriellen Kulturerbes’ gefallen, als es um den Karfreitag ging. Das ist in diesem Zusammenhang ein hilfreicher Begriff, weil er vermittelt. Es geht um die Wertschätzung und Anerkennung überlieferten Wissens und kultureller Traditionen.
epd: Warum halten es Teile unserer Gesellschaft nicht aus, zumindest einen einzigen Tag im Jahr als stillen Tag zu begehen?
Merle: Ich halte nichts von Polarisierungen und davon, das Thema für vermeintliche Kulturkämpfe zu nutzen. Tatsächlich handelt es sich doch um eine Pathologie, die uns als gesamte Gesellschaft ergriffen hat: dass wir uns den Dynamiken der Beschleunigung kaum mehr entziehen können, und dass Tempo, Umtriebigkeit und Kommunikation nicht mehr recht gedrosselt werden können. Ich rate davon ab, das Thema zu moralisieren.
Es ist doch eher so: Wenn ich keinen starken – in dem Fall religiösen – Wert habe, der das Gesetz der Beschleunigung zumindest für Momente aussetzen, unterbrechen kann, dann bin ich den Dynamiken ja umso mehr ausgeliefert. Das könnte ein Argument dafür sein, gesamtgesellschaftlich an der zyklischen Installation von Unterbrechungen ein Interesse zu haben, um Entfremdungsprozesse von Menschen gegenüber sich selbst, gegenüber anderen und der Gesellschaft zu mindern.
In jedem Fall weist das – unabhängig von der Karfreitagsdebatte – darauf hin, dass hier ein gesamtgesellschaftlicher Handlungsbedarf besteht, bei dem es nicht zuletzt darum geht, auch Beziehungsfähigkeit wieder einzuüben und Alternativen zu bestehenden Organisationsformen vergesellschafteten Lebens zu imaginieren. Die Religionen können zu solchen Überlegungen sicherlich einiges beitragen.