Rot, biegsam und meist mit Eselsohren. Die „Mundorgel“, eines der meistverbreiteten Liederbücher in Deutschland, ist im August 65 Jahre alt geworden. Nicht nur Menschen im Rentenalter zählen zu den Nutzern des Heftes. In Kindergärten, Jugendgruppen, Schulen und Kirchengemeinden ist die „Mundorgel“ nach wie vor im Einsatz.
Die zur Zeit gültige Fassung stammt aus dem Jahr 2001 und ist nach Angaben des Mundorgel-Verlags in Lindlar die siebte geänderte Auflage. „Die verkauften Exemplare übersteigen mittlerweile die 15 Millionen“, erklärte Christiane Müller vom Vertrieb des Verlags im Gespräch. Der Verkauf erfolgt laut Müller über die Buchhandlungen oder direkt über den Online-Shop. Die Notenausgabe kostet jeweils 9,50 Euro, die Textausgabe ist bereits für 3,50 Euro zu haben.
Es waren 1953 vier junge Mitarbeiter aus der Jugendarbeit des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM), die die Idee hatten, für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen das Liederbuch zusammenzustellen. Der Name „Mundorgel“ nimmt nicht etwa Bezug auf das uralte, asiatische Zungen-Instrument, das es bereits im zehnten Jahrhundert vor Christus gab. Sondern es verweist auf den 1953 amtierenden CVJM-Kreisvorsitzenden Horst Mundt in Köln.
Bis heute gilt die „Mundorgel“, mit in der aktuellen Ausgabe inzwischen 278 teils mehrsprachigen Liedern, als Kult-Liederbuch. Und kaum jemand, der heute 50, 60 Jahre und älter ist, hat sie nicht selbst bei Fahrten mit der Schule, der Jugendgruppe oder dem Sportverein in der Hand gehabt. „Mein Lieblingslied war immer ‚We shall overcome“, erklärt der 66-jährige Rudolf Alexander aus Düsseldorf, der mit 14 Jahren als Pfadfinder erstmals mit dem Heft in Berührung kam und es nach wie vor im Bücherregal verwahrt.
Auch seine beiden Kinder und der mit acht Jahren älteste Enkel Sam können den einen oder anderen „Mundorgel“-Ohrwurm singen. Auch Caroline Steinfurt aus Mülheim-Ruhr kann sich noch gut an diverse Lagerfeuer-Abende bei Jugendreisen erinnern. Ihr persönlicher Hit war vor rund 50 Jahren „Die Affen rasen durch den Wald“. Der 40 Jahre alte Walter Behrens aus dem rheinischen Grevenbroich hat seine „Mundorgel“ vom Vater erhalten.
Anfang der 1970er Jahre besaß fast jedes zweite Kind zwischen zehn und 15 Jahren eine „Mundorgel“, erinnert sich Rainer Lorenzen an viele Jugendreisen früher. „Damals hatte einer eine Gitarre mit, die anderen hatten die ‚Mundorgel‘, das war schon ziemlich toll und auch romantisch, je nachdem, welches Lied da angestimmt wurde.“ 1975 stand das Heft sogar auf dem fünften Platz der Jahresbestsellerliste, noch vor den damals aktuellen Werken von Alexander Solschenizyn und Johannes Mario Simmel.
Oft waren Lieder mit christlichem Hintergrund, Seefahrer-Lieder, Wanderlieder, Shantys, mittelalterliche Balladen und natürlich die damaligen Friedenslieder und Protestsongs wie „Sag mir, wo die Blumen sind“ . In der ersten Ausgabe 1953 waren 132 Lieder enthalten – und einiges „braunes Liedgut“ aus der Zeit des Nationalsozialismus war auch dabei. Da war dann von „Stoßtruppen“ die Rede, vom „freudigen Kampf“ oder von Christus als „Heerführer“. Diese Lieder wurden dann in weiteren Auflagen gestrichen.
Im Schauspielhaus in Dortmund findet seit etwa zwei Jahren regelmäßig mit riesigem Erfolg das „Mundorgel-Project“ als Mitsingabend statt (www.mundorgel-project.de). Dabei wird die „Mundorgel“ nach Angaben der Initiatoren dem ultimativen Live-Test unterzogen, „wenn Publikum und Band die musikalischen Schätze gemeinsam (zer)schmettern!“
Heute hat der Verlag auch andere, zielgruppengenauere Liederbücher im Angebot. Da gibt es etwa „Halleluja Christ ist da“ mit alten und neuen Liedern zum Advent oder zu Weihnachten, „Jiddische Lider“ oder auch das Heft „Die schönsten Lieder“ mit Titeln aus Deutschland, der Türkei, Griechenland, Italien, Polen, Portugal und Spanien. Und auch an die älteren Nutzer des inzwischen seit 65 Jahren erscheinenden Liederheftes ist gedacht.
Inzwischen gibt es seit einigen Jahren für sehbehinderte Freunde der Musik zwei verschieden große Ausgaben als Großdruck und als XXL-Version, so Christiane Müller vom Mundorgel-Verlag. Die „Mundorgel“ ist nach wie vor klein und handlich und passt somit auch nach 65 Jahren immer noch in jede Hosen- und Hemdentasche. Im August 1953 brachte der Drucker die allerersten Exemplare des Liederbuches per Fahrrad übrigens in den Westerwald in ein Zeltlager bei Altburg im Nistertal.
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Pfeifen auf „Die Mundorgel“ – mit 65 Jahren ist noch lange nicht Schluss
© epd-bild / Klaus Landry