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Osala in der Demenz-WG – “Ich muss meinen Geist entstauben”

Am einen Tag 20, am anderen 97: Menschen mit Demenz wissen manchmal nicht mehr, wie alt sie sind oder erkennen ihre Kinder nicht. Wie geht man mit ihnen um? Ein Besuch in einer Demenz-WG in Berlin.

Am Montag kommt “die Montagsdame”, erzählt Osala Krause, 97 Jahre alt. Darauf freut sie sich die ganze Woche. “Sie singt mit uns oder macht Sprachtraining. Dann hält sie zum Beispiel ein H hoch und wir müssen sagen, was das für ein Buchstabe ist. Das wissen die meisten hier nicht mehr. Ich aber schon.”

Krause wohnt in Berlin-Charlottenburg, in einer WG der Caritas mit acht weiteren Menschen über 80 Jahren, die an Demenz leiden. Sie selbst ist die fitteste unter den alten Leuten – und lebt hauptsächlich hier, weil ihr Mann Günter, der bald 99 Jahre alt wird, dement ist. Sie wollten sich nicht trennen – “er ist mein bestes Stück”, sagt Osala und legt ihre zarte Hand mit orangerot lackierten Nägeln auf seine schmalen Finger.

Günter, der mal Schlosser war, handwerklich begabt und gern gereist ist, schaut seine Frau immerfort an, wenn sie erzählt. Auf die Frage, ob er sich hier wohl fühle, antwortet er mit einem Lächeln: “Sehr wohl”. Osala vermisst dagegen den Austausch mit anderen. “Hier sind halt alle senil”, sagt sie und blickt nacheinander ihren Günter und zwei andere Damen an, die in Sesseln an der Wand sitzen und schweigend vor sich hin schauen. Im Hintergrund läuft im stummgeschalteten Fernseher eine TV-Serie.

2023 waren in Deutschland knapp 5,7 Millionen Menschen pflegebedürftig. Mehr als 80 Prozent von ihnen werden zu Hause versorgt, besagt das Statistische Bundesamt – ambulant, von Angehörigen, Pflegediensten, die nach Hause kommen oder “live-in”-Pflegekräften, die mit im Haus wohnen. Die anderen sind in Pflegeheimen oder speziellen Wohngemeinschaften untergebracht.

Wie etwa in der Demenz-WG von Osala Krause: Hier hängen im Flur Schwarzweiß-Fotografien von alten Stars wie Harald Juhnke, Trude Herr oder Elvis Presley. Es gibt eine offene Küche und einen Aufenthaltsraum. Alle Bewohner haben ihr eigenes Zimmer, nur das Ehepaar Krause wohnt zusammen. Ein Foto von Günter als 18-jähriger Soldat steht auf dem Nachttisch. Daneben ein Bild von den beiden als verliebtes Paar, mit etwa Ende 40.

Positive Erinnerungen an ihre Kindheit hat Osala nicht allzu viele. “Ich war im Krieg jung. Das waren harte Zeiten. Ich möchte mein Leben nicht noch einmal leben”, sagt sie. Anders als andere Mitbewohner bekämen sie und ihr Mann nur wenig Besuch. “Ich hätte gern Kinder gehabt. Aber was nicht ist, ist nicht.”

In der hellen Wohnküche nebenan sitzen zwei ältere Damen am Tisch. “Du warst mal so schön. Du wirst immer dünner. Du musst essen”, sagt die eine Bewohnerin zu der anderen, die still ins Leere schaut. “Lassen Sie sie, sie möchte nicht”, antwortet stattdessen die betreuende Altenpflegerin freundlich.

1,8 Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Das stellt die Gesellschaft vor neue Herausforderungen.

Maria Kotulek, Theologin und Expertin für Demenz beim Erzbistum München und Freising, plädiert dafür, Menschen mit Demenz in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Dass sie im gesellschaftlichen Leben oft nicht mehr auftauchten, habe viel mit Unsicherheit und Unwissen zu tun. Um Hemmungen und Berührungsängste im Umgang mit dementen Menschen abzubauen, sei mehr Wissen nötig. “Wir müssen die ganze Gesellschaft zum Thema Demenz schulen”, sagt sie.

Dann sei es auch für Angehörige einfacher, mit einem Demenzerkrankten öffentliche Einrichtungen oder Veranstaltungen zu besuchen. Sie trauten sich dann eher, den erkrankten Vater oder die erkrankte Mutter mitzunehmen. “Wenn alle wissen, dass Menschen mit Demenz das sagen, was sie gerade fühlen, ist es auch nichts Besonderes, wenn derjenige etwa laut im Gottesdienst äußert, dass ihm gerade langweilig ist”, so die Expertin. Die Deutschen würden durchschnittlich älter – und damit steige auch die Zahl der Betroffenen hierzulande.

Demenzerkrankte hätten oft kindliche Züge – “sie sind aber keine Kinder”, stellt Kotulek klar. “Sie haben ihre komplette Biografie im Hintergrund und müssen entsprechend ernst genommen werden.” Dass nicht genug Menschen hierzulande den Job der Altenpflege machen wollen und deshalb viele der Pflegekräfte aus dem Ausland kommen und nicht gut Deutsch sprechen, ist gerade bei Demenzerkrankten nicht unproblematisch: “Das Bekannte ist für sie wichtig, um sich geborgen zu fühlen”, sagt Kotulek.

Für die neun Menschen in der Wohngemeinschaft der Caritas sind zwei Pflegerinnen zuständig, die außerdem einkaufen, kochen, die Zimmer reinigen und sich mit den alten Menschen beschäftigen. Sie versuchen, die Ressourcen der Betroffenen zu erhalten. “Geschirr abwaschen oder Wäsche zusammenlegen: Das sind Aufgaben, die unsere Bewohner noch von früher kennen”, sagt Jacqueline Schmidt, die für die Caritas die WG-Betreuung koordiniert. Dass die Bewohner der WG nacheinander sterben, ist Alltag für sie. Es ist für die Menschen die letzte Lebensstation. “Sie empfinden den Verlust von einem Mitbewohner meist nicht so schlimm. Das liegt an der Demenz. Die Bewohner lernen sich oftmals jeden Morgen neu kennen.”

Die Pfleger versuchen auch, für die Angehörigen da zu sein, die manchmal nur schwer mit der Situation umgehen können. “Es kommt auch vor, dass ein Demenzerkrankter seine Kinder beschimpft, dass er sagt: ‘Du hast mich hier abgegeben.'” Schmidt, 56 Jahre alt, ist schon lange als Altenpflegerin tätig. “Es sind hier gute Bedingungen für die alten Menschen. Ich war auch schon in Pflegeheimen, wo man so viele Menschen betreuen musste, dass man sagte: ‘Da klingelt die 103’. Und nicht: ‘Da klingelt Frau Meyer.'”

Das Ehepaar Krause sei eine von den positiven Überraschungen, die die Arbeit auch bereit halte. “Als sie vor anderthalb Jahren kamen, dachten wir, sie sterben bald, sie lagen nur im Bett und starrten die Decke an. Bei uns haben sie sich gut erholt”, berichtet Schmidt.

Osala Krause sagt dasselbe: “Hier habe ich wieder laufen gelernt. Jetzt muss ich noch meinen Geist entstauben.”