Nach rund 200 Jahren steht das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland unmittelbar bevor. Die Zeche Ibbenbüren im Tecklenburger Land fördert schon seit Mitte August nicht mehr. Auf der Zeche Prosper Haniel in Bottrop werden nur noch kleine Mengen abgebaut. Offiziell und endgültig „Schicht am Schacht“ ist an beiden Standorten im Dezember, weil EU-Recht eine weitere Förderung des Steinkohlebergbaus aus Steuermitteln nicht länger zulässt. Über den langsamen Ausstieg aus der Steinkohle, über soziale Fragen und über die Perspektiven im Blick auf die Braunkohle sprach Annemarie Heibrock mit dem in Bünde geborenen ehemaligen Herner Sozialpfarrer und EU-Abgeordneten der Linken, Jürgen Klute.
Am 21. Dezember soll mit einem Festakt auf Prosper-Haniel das letzte Stück Kohle an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übergeben werden. Gibt es aus Ihrer Sicht zum Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland was zu feiern?
Das kommt auf die Perspektive an. Alle, die sich gegen den Klimawandel starkmachen, werden das sicherlich feiern. Denjenigen jedoch, die ihre angestammten Arbeitsplätze verlieren, wird wohl nicht nach Feiern zumute sein.
Es heißt aber doch, dass die meisten Beschäftigten der letzten beiden Zechen untergebracht werden…
Das ist sicher richtig. Zu tun hat das mit der Ruhrkohle AG. Sie wurde ja 1968 gegründet, um Stellenabbau im Bergbau sozialverträglich und vernünftig zu organisieren. Das läuft hier in Deutschland zum Glück anders als etwa 1984/85 in England, wo man die Leute einfach von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt hat. Insofern wird also jetzt niemand in Armut fallen, aber es fehlen natürlich die Arbeitsplätze des Steinkohlebergbaus für die jüngere Generation – und: Die Bergbautradition findet ihr Ende.
Sie waren Sozialpfarrer im Ruhrgebiet und haben im Rahmen des Projekts „Industrielle Arbeitswelt und Kirche“ auch ein halbes Jahr lang unter Tage gearbeitet. Ich vermute, dass Ihnen der Abschied vom Steinkohlebergbau daher auch persönlich nicht leichtfällt…
Nein, denn der Bergbau hat schon seinen eigenen Charme. Nicht in umweltpolitischer Hinsicht, aber aus persönlichen und emotionalen Gründen stellt sich da tatsächlich ein gewisses Verlustgefühl ein. Denn „auf Zeche“ herrscht eine ganz eigene Kultur des Miteinanders, die verloren geht. Aber so ist es nun mal: Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.
Letztlich ist das Ende des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet eine logische Konsequenz des veränderten Weltmarktes. Deutsche Kohle ist eben preislich nicht konkurrenzfähig – und das obwohl die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Branche schon seit Jahrzehnten massiv subventionieren.
Das stimmt. Dabei sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren, dass die Förderbedingungen in anderen Ländern unter sozialen und ökologischen Aspekten deutlich schlechter sind als in der Bundesrepublik – etwa in Kolumbien.
Unter anderem von dort kommt – nebenbei bemerkt – die Steinkohle, die wir jetzt zur Stromproduktion verbrennen…
Ja, der Ausstieg aus der Kohleförderung in Deutschland bedeutet leider nicht automatisch den Ausstieg aus der Kohleverstromung.
Noch einmal ein Blick zurück: Die Probleme mit der Steinkohleförderung in Deutschland begannen schon in den 1950er Jahren, als die leichter zugänglichen Vorkommen erschöpft waren und Erdöl und Erdgas als preisgünstigere Alternativen auf den Markt kamen?
Man musste eben immer tiefer gehen, um an die Kohle heranzukommen. Die erforderliche Technik wurde aufwändiger und damit teurer. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ruhrgebiet – anders als die Kohleregion zum Beispiel in England – dicht bebaut ist. Bodensenkungen haben hier viel gravierendere Folgen und treiben die Kosten hoch.
Wo standen denn die Kirchen, wenn nach und nach immer mehr Zechen geschlossen wurden?
Es gab etliche Kirchenleute aus beiden Konfessionen, die sich immer wieder an die Seite der Bergarbeiter gestellt und einen sozialverträglichen Stellenabbau angemahnt haben. Sie haben sicher auch ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Ruhrkohle AG als eine große Gesellschaft für alle Zechen gegründet wurde, um den Beschäftigten bei Zechenschließungen leichter neue Stellen anbieten zu können. Außerdem gab es seit 1949 die so genannte „moralische Wiederaufrüstung“ der Bergleute. Viele von ihnen kamen aus der Kriegsgefangenschaft und mussten sofort wieder an die Arbeit, weil für den Wiederaufbau Energie gebraucht wurde. Sie benötigten Beistand in verschiedener Hinsicht. Aus ersten Seminaren in Haus Villigst erwuchs schon vor mehr als 60 Jahren die „GSA“, die „Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau“, die Seminare für die Mitarbeitenden anbietet, um die Arbeitssituation in den Unternehmen zu verbessern. Diese Arbeit wird nun auch auslaufen.
Angestoßen wurde bereits seit den 1960er Jahren auch ein Wandel in der Wirtschaft des Ruhrgebiets, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Ja. Opel und später Nokia in Bochum, Siemens in Gladbeck, Blaupunkt in Herne… Man hat schon einiges getan für neue Arbeitsplätze. Und jetzt kommt wieder ein Wandel, obwohl der alte noch nicht ganz abgeschlossen ist: die Digitalisierung in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Dadurch werden voraussichtlich wieder Menschen ihre Arbeit verlieren, vor allem solche, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Ausbildung nicht einfach umzupflanzen sind in die neu entstehenden Berufe. Und dann wird sich wie bei den Bergleuten die Frage stellen: Wie können wir die Betroffenen mitnehmen in die neue Arbeitswelt? Da ist erneut kirchliches Engagement gefragt, damit diese Menschen sich nicht allein gelassen fühlen.
Noch einmal zum Abschied von der Kohle: Nach und nach hat man im Ruhrgebiet die Natur und vor allem die Kultur entdeckt. Aus Zechen und Kokereien wurden Museen. Höhepunkt war wohl das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2010. Wenn Sie alles zusammen betrachten, Wirtschaft, Kultur, Natur: Ist der Strukturwandel gelungen?
Tatsächlich hat er Spuren hinterlassen. Nicht alle alten Arbeitsplätze konnten durch neue ersetzt werden und die Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor deutlich über dem Durchschnitt. Alles in allem aber kann man das Projekt Strukturwandel, das ja über 50 Jahre lief, als politisch begleiteten Abbau des Bergbaus durchaus als gelungen bezeichnen, denn es ist nicht zu einer schlagartigen Massenarbeitslosigkeit gekommen. Immerhin waren zu Hochzeiten im Ruhrgebiet fast zwei Millionen Menschen im Bergbau und in den vor- und nachgeordneten Branchen beschäftigt. Noch mal der Vergleich zu Nordengland: Dort ist nach den Zechenschließungen 1984/85 eine ganze Region langfristig verarmt. Das hat Spuren bis hin zum Brexit hinterlassen.
Man kann nicht über das Ende der Steinkohleförderung in Deutschland sprechen, ohne auch die aktuelle Diskussion um die Braunkohle in den Blick zu nehmen. Hier stellt sich ja das gleiche Problem: Ökonomie und Arbeitsplätze versus Ökologie. Denken Sie, dass ein ähnlicher Strukturwandel wie bei der Steinkohle gelingen kann?
Die Geschichte der Ruhrkohle zeigt, dass man einen solchen Wandel politisch gestalten kann – wenn man es will. Allerdings muss man einräumen, dass der politische Druck im Ruhrgebiet angesichts der großen Zahl der Beschäftigten deutlich größer war als jetzt im rheinischen Braunkohletagebau, wo etwa 4600 Arbeitsplätze bedroht sind. Es gilt jedoch auch in diesem Fall, dass gesellschaftliche Risiken wie ein solcher Strukturwandel auch gesellschaftlich abgefedert werden müssen. Die Beschäftigten können ja nichts dafür, dass man sich mittlerweile der Tatsache bewusst geworden ist, dass die Kohleverbrennung den Klimawandel fördert, und aus dieser Einsicht die Konsequenzen zieht.
Obwohl Sie als Linker an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen, plädieren Sie für einen schnellen Ausstieg aus der Braunkohleförderung und -verstromung?
Auf jeden Fall. Der Klimawandel lässt gar nichts anderes zu. Wir müssen da raus. Und gleichzeitig müssen wir unsere Verantwortung gegenüber denen wahrnehmen, die dadurch ihre Arbeitsplätze verlieren. In einem so reichen Land wie der Bundesrepublik sollte es doch zu schaffen sein, so einen Ausstieg vernünftig und sozial zu gestalten. Dafür muss sich auch die Kirche starkmachen. Unter euch sollte kein Armer sein, heißt es doch im 5. Buch Moses.