Ostereier bemalen, den Weihnachtsbaum schmücken, die Stadionwurst vor dem Heimspiel essen: Traditionen strukturieren das Leben und schaffen Identität. Manchmal werden sie belächelt, manchmal wird geradezu militant darauf beharrt: Etwa, wenn es am Geburtstag alljährlich den immergleichen Kuchen geben muss. Oder der Urlaub nur dann wirklich ein guter Urlaub ist, wenn der gleiche Ort wie jedes Jahr bereist wird. Ein Experte erklärt, welche Rolle Rituale in Familie, Fußball und Religion spielen.
Was sind eigentlich Traditionen?
Traditionen sind Bräuche und Gewohnheiten, die über Generationen innerhalb einer Gemeinschaft weitergegeben werden. Das kann innerhalb der Familie sein, aber auch einer Religionsgemeinschaft, einem Verein oder einer ganzen Gesellschaft. “Die Menschheit hat schon immer weitergegeben, was vorher war. Traditionen lassen sich so weit zurückverfolgen, dass die ersten Menschen etwas wie Spiele zur Unterhaltung der Kinder entwickelt und diese von Generation zu Generation weitergegeben haben”, erklärt Hans-Peter Großhans. Der Theologieprofessor der Universität Münster sieht darin Vorformen von religiösen Riten und heutigen Traditionen.
Warum werden Dinge und Gewohnheiten weitergegeben?
“Was in der Praxis für gut befunden wird, wird weitergegeben”, fasst Großhans zusammen. “Traditionen müssen immer wieder neu die nächste Generation überzeugen.” Auch emotionale Verbindungen spielen dabei eine Rolle, außerdem kann es sehr individuell sein, warum Dingen und Gewohnheiten eine Bedeutung zugeschrieben wird.
Welchen Zweck haben Traditionen?
Ritualisiertes Geschehen sorgt für Struktur; im Tag, im Jahr und im Leben. So beginnt für den einen der Frühling nach der ersten Motorradtour; für andere, wenn es Marzipaneier im Supermarkt gibt oder mit dem ersten Sonnenbrand im Gesicht. Für die wenigsten fängt der Frühling wohl mit dem kalendarischen oder meteorologischen Frühlingsbeginn im Kalender an.
Traditionen sind außerdem für Gemeinschaften ein wichtiger Identitätsmarker. Sie festigen den Zusammenhalt und grenzen die eigene Gruppe von anderen Gruppen ab. Großhans verweist auf Familientraditionen. “Die einen essen zu Weihnachten immer Kartoffelsalat, die anderen Gans”. Ähnliches lässt sich auch in größeren Gemeinschaften beobachten – etwa, wenn vor jedem Heimspiel des 1. FC Köln das Maskottchen, Geißbock Hennes, ins Stadion geführt und bejubelt wird.

Großhans betont die Bedeutung von Traditionen für die Verbindung der Generationen. “Traditionen wertschätzen die Vergangenheit. In ihnen kommen Jung und Alt zusammen, teils tatsächlich, teils im übertragenen Sinn”.
Gibt es heute weniger Traditionen als früher?
“Auch wenn durch das religiöse Leben geprägte Traditionen eher weniger werden, gibt es viele Traditionen, die wir als solche gar nicht im Blick haben. Ich denke beispielsweise an den Fußball und an jährliche stattfindende Klassentreffen”, so Großhans. “Es ist normal, dass sich Traditionen verändern.” Ein Beispiel dafür sind nationale Gedenktage. “Im November wird mit dem Volkstrauertag der Kriegstoten gedacht.” Die Aufmerksamkeit für diesen Tag nehme ab. “Vielleicht stirbt dieser Gedenktag aus, weil sich niemand mehr an Krieg erinnert, vielleicht wird er neu definiert. Es finden sich dann andere Anlässe, an denen das Volk gemeinsam trauert.”
Großhans verweist auch auf das Konfliktpotenzial von Traditionen – etwa im Zusammenhang mit der deutschen Schuldgeschichte in der NS-Zeit und dem Gedenken daran. “Menschen ohne deutsche Familiengeschichte fremdeln damit; sie haben teils ganz andere Traditionen. Das kann zu Konflikten führen.”
Wieso gibt es Ostern weniger Traditionen als Weihnachten?
Gründe dafür sieht Großhans in der christlichen Botschaft und der Zeit, die den Festen vorausgeht. Während der Fastenzeit vor Ostern eine Phase der Besinnung auf das eigene Leben und die Sünde liegt, hat die Adventszeit einen anderen Charakter. Sie ist zwar ebenfalls eine Bußzeit, aber geprägt vom Ankommen Gottes. “Der Advent ist die Vorbereitung auf ein großes, freudiges Event”, sagt Großhans. Außerdem sei die Weihnachtsgeschichte, die Geburt eines Kindes, viel leichter zu vermitteln als die Passionsgeschichte und damit auch für Brauchtum anknüpfbarer. “Die Kar- und Ostertage erinnern religiös gesehen an eine Schmerzensgeschichte, wenn auch mit der Botschaft der Überwindung des Tods. Das erzeugt eine andere Stimmung als an Weihnachten, wo neues Leben in die dunkelste Zeit im Jahr kommt.”
Der Freiburger Musikwissenschaftler Michael Fischer äußert sich ähnlich zur geringeren Zahl an Popsongs oder Volksliedern rund um Ostern. Weihnachten sei viel stärker mit positiven Gefühlen verbunden. “Die Weihnachtserzählung erzählt emotional von einer Familie, von Elternschaft, von der Geburt eines Kindes.” Daran lasse sich popkulturell viel leichter anknüpfen. Hinzu kommt laut Großhans die an Weihnachten stärker ausgeprägte Verbindung mit der natürlichen Zeitordnung – also mit der Sonnenwende und dem kürzesten Tag des Jahres.
Gibt es traditionelle Unterschiede zwischen den Konfessionen?
Manche Traditionen teilen die christlichen Kirchen, manche unterscheiden sich. “In der katholischen und auch der orthodoxen Kirche gibt es mehr als in der protestantischen”, so der evangelische Theologe Großhans. Die evangelische Kirche sei unter anderem genau durch die Ablehnung bestimmter Traditionen der katholischen Kirche entstanden.