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Nahost-Krieg: Aus der Dusche in den Schutzraum

Marion Gardei hat die Angriffe in Tel Aviv miterlebt. Die Antisemitismusbeauftrage der Berliner Landeskirche schildert im Interview, wie sie in den Bunker gerannt ist – und was Deutschland tun kann.

Die Theologin Marion Gardei auf der menschenleeren Straße nahe ihrer Ferienwohnung in Tel Aviv
Die Theologin Marion Gardei auf der menschenleeren Straße nahe ihrer Ferienwohnung in Tel AvivPrivat

In einer Ferienwohnung in Tel Aviv wohnt Marion Gardei (65) momentan mit ihrer Tochter Esther, die in Israel an einem Forschungsprojekt arbeitet. Dort hat die Beauftragte für Erinnerungskultur und Antisemitismus-Beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz die Angriffe der Hamas erlebt. Weil die Telefonverbindungen ständig zusammenbrechen, hat die Berliner Theologin die Fragen von Timo Teggatz per Sprachnachricht beantwortet.

Wie haben Sie den Beginn der Angriffe am Samstag erlebt?
Als wir frühmorgens den Alarm gehört haben, konnten wir erstmal gar nicht viel damit anfangen. Es hat uns buchstäblich unter der Dusche erwischt. Aber dann stand auch schon unser Nachbar vor der Tür und hat uns mit in den Schutzraum genommen. Dort haben wir lange gesessen. Wie ernst die Situation wirklich war, haben wir erst später mitbekommen. Wir haben nämlich an diesem Tag noch einen geplanten Ausflug an den See Genezareth gemacht. Auf dem Rückweg waren die Straßen dann total verstopft, es gab schon Kontrollen.

Wie ging es dann weiter?
Am schlimmsten war der Samstagabend in unserer Wohnung. Da gab es einige Raketenangriffe. Und jedes Mal hatten wir 90 Sekunden Zeit, den Schutzraum im Keller zu erreichen – aus dem sechsten Stock ohne Fahrstuhl. Am nächsten Tag haben wir uns dann mit Lebensmitteln eingedeckt und versucht, unsere Rückflüge vorzuziehen. Das war sehr schwierig, auch die deutsche Botschaft konnte uns nicht helfen. Zum Glück haben wir jetzt einen Flug für Mittwochabend.

In diesen kargen Schutzbunker hat sich Marion Gardei zusammen mit ihrer Tochter und Nachbarn mehrfach gerettet
In diesen kargen Schutzbunker hat sich Marion Gardei zusammen mit ihrer Tochter und Nachbarn mehrfach gerettetPrivat

Wie ist die Stimmung in der Stadt?
Eigentlich ist Tel Aviv eine sehr lebendige Stadt. Aber momentan sind die meisten Geschäfte und Cafes geschlossen, nur Supermärkte haben geöffnet. Die Universitäten haben die für diese Woche geplante Eröffnung verschoben. Ein normales Leben ist hier nicht möglich, das Land steht immer noch unter Schock. Alle Leute sollen sich immer in der Nähe eines Schutzraumes aufhalten, man hat also gar nicht die Möglichkeit, seine Wohnung für längere Zeit zu verlassen.

Unsere Wohnung hat eine wunderschöne Dachterrasse. Aber wir nutzen sie nicht mehr. Von weitem hören wir von dort das Bombardement und sehen Hubschrauber und Kampfflugzeuge.

Welche Rolle spielt für die Menschen in Israel jetzt der Glaube?
Es gibt jetzt ganz sicher tausende persönliche Gebete und Fürbitten für Menschen, die in den Krieg ziehen müssen, und für Geiseln, die unter furchtbaren Bedingungen gehalten werden. Über allem steht die Bitte um Frieden, denn danach sehnen sich alle hier in Israel.

Extra-Gedenkgottesdienste außer den Beerdigungen haben meines Wissens nicht stattgefunden. Aber die normalen Gottesdienste haben stattgefunden. Dieses Festhalten an der Normalität ist auch ein Weg, um mit dem Schock umzugehen und seinen Glauben auszudrücken.

Auch in Tel Aviv sind Raketen aus dem Gazastreifen eingeschlagen
Auch in Tel Aviv sind Raketen aus dem Gazastreifen eingeschlagenImago / Xinhua

Sie haben sich schon öfter länger in Israel aufgehalten. Haben Sie etwas Vergleichbares schon erlebt?
Bei meinen früheren Aufenthalten habe ich den Libanon-Krieg 1982 und auch die erste Intifada erlebt. Aber dieser Angriff hat ein neues Ausmaß erreicht. Die Brutalität der großen Anzahl von Terroristen ist erschütternd und wird auch noch durch soziale Medien verbreitet. Dass so viele Israelis an einem Tag sterben mussten, ist noch nie da gewesen und wirkt traumatisch.

Was können wir in Deutschland tun?
Unsere Aufgabe ist es jetzt, Solidarität zu zeigen mit den Menschen, die hier in Israel Angst haben. Wir müssen allem Israel-Hass ganz entschieden entgegentreten. Den gibt es leider immer noch in Deutschland – nicht nur in Berlin auf der Sonnenallee.

Was glauben Sie, wie sich die Lage entwickeln wird?
Das ist schwer zu sagen. Momentan dauert die Bombardierung des Gazastreifens an. Alle Reservisten sind einberufen. Es sieht so aus, als würde eine große Bodenoffensive bevorstehen. Und ich befürchte, dass der Krieg lange dauern wird. Das ist nicht in zwei Wochen vorbei.

In Israel selbst wird es auch innenpolitische Auseinandersetzungen mit der Regierung geben. Die Frage, warum das Land so überrascht wurde, wird immer wieder gestellt. Eine große Koalition als Krisenregierung wird jetzt angestrebt.