Sowohl in Israel als auch in Palästina leben die Menschen seit einem Jahr in einer Ausnahme-Situation, die es ihnen schwer macht, ihr Leben selbstbestimmt fortzuführen. Sie sorgen sich um ihr Leben, ihre Unversehrtheit, und den Fortbestand ihrer Nation. Viele reagieren auf diesen Druck mit Regression – und leugnen zum Beispiel schlicht die Existenz oder Menschlichkeit des sie bedrohenden „Anderen“.
Israelische Sicherheitskräfte an der Grenze erklären Einreisenden, die nach Palästina reisen wollen, schon lange, dass dieses Land nicht existiert. Palästinensische Schülerinnen und Schüler sagen wiederum ihren Geografie-Lehrern, dass es kein Land auf der Karte mit dem Namen Israel gibt. Diese Reaktion hat nichts mit vergessenem Faktenwissen zu tun; aber sehr viel mit der psychischen Konstitution der Menschen in der Region, die sich wie ein Kind wünschen, dass das Problem weggeht, wenn die Menschen oder das Land verschwinden, das einem selbst augenscheinlich Probleme bereitet.
Israel: Alle sprechen von Frieden, aber…
Dieses Phänomen gab es bereits vor dem 7. Oktober 2023. Eine israelische Friedensaktivistin erzählte einer deutschen Delegation, die im Mai 2023 in Jerusalem zu Besuch war: „Alle hier sprechen von Frieden. Aber für viele Israelis bedeutet Frieden, dass die Palästinenser oder arabischen Israelis einfach verschwinden. Sie wollen sie nicht ins Meer treiben oder töten, aber ihre eigentliche Hoffnung ist, dass sie einfach nicht mehr da sind.“ Diese Haltung hat sich seit Beginn des Krieges unter Israelis wie Palästinensern verschärft. Sie ist von einer Sehnsucht nach Frieden geprägt, die zu extremer Gewalt führen kann. Die Auslöschung des „bedrohlichen Gegners“ scheint Voraussetzung des eigenen Weiterbestehens zu sein.
Sollten die die Oberhand behalten, die den „Gegner“, also entweder „die Israelis“ oder „die Palästinenser“ einfach weghaben wollen, wird es keine Sicherheit und keinen Frieden und möglicherweise bald auch kein Palästina und Israel mehr geben.
Gesellschaftliches Leben getroffen
Es besteht aber auch die realistische Möglichkeit, dass die Menschen und Gruppen in Palästina und Israel an Einfluss gewinnen, die sich seit Langem dafür einsetzen, dass Rechtssicherheit in Israel und Palästina gewährleistet ist, Menschenrechte anerkannt werden, und eine klare Regelung zur Koexistenz von Palästinenserinnen und Palästinensern und Israelis in der Region entwickelt wird.
Eine junge Frau erzählte mir einige Wochen nach dem Angriff der Hamas, dass sie und viele andere in Israel-Palästina gerade merken, wie sehr die Menschen hier wie dort aufeinander angewiesen sind. Sie meinte das nicht im romantischen oder friedensaktivistischen Sinn, sondern ganz praktisch: Es gibt wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, die seit dem 7. Oktober gekappt sind, wodurch das Leben in Israel und in der palästinensischen Westbank sehr schwer geworden ist. So erkennen manche jetzt in besonderer Weise, dass es für Palästinenser und Israelis nur eine gemeinsame Zukunft gibt, und der dauernde Kampf gegen den äußeren Gegner auch die eigene Sicherheit und Existenz gefährdet.
Evangelische Kirche arbeitet unter erschwerten Bedingungen
Die Partnerkirche des Berliner Missionswerks, die Evangelisch-Lutherische Kirche Jordaniens und des Heiligen Landes (ELCJHL), die Gemeinden in der Westbank und in Jordanien hat, leidet unter den Militäreinsätzen, dem verstärkten Siedlungsbau und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit wie alle Menschen in der Westbank. Sie unterstützt die Familien, die finanzielle Not haben, weil sie nicht mehr in Israel arbeiten können, oder weil sie im Bereich des Tourismus oder davon abhängiger Branchen gearbeitet haben. Sie äußert sich in Statements zur Situation und fordert eine tragfähige Lösung, die den Menschen in der Region Recht und Sicherheit bietet.
Die schulische Arbeit steht vor besonderen Herausforderungen, bietet aber auch eine wichtige Chance, um Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Die ELCJHL betreibt drei Schulen in der Westbank. Das Berliner Missionswerk ist Träger der Schule Talitha Kumi in Beit Jala. Diese Schule führt vom Kindergarten bis zum deutschen und palästinensischen Abitur. Dort planen wir eine Kooperation mit Initiativen wie dem „Holy Land Trust“, „Women of the Sun“ und „Roots“. Unter anderem werden die Schüler zu ihrer religiösen Identität, und zum multireligiösen Leben in ihrer Heimat arbeiten.
Delegation aus der Westbank besucht Berlin
Wir hoffen, damit einen Samen zu setzten für eine Zivilgesellschaft, in der die Menschen nicht allein von Hass, gesellschaftlicher Spaltung und Schuldzuweisungen geprägt sind, sondern Verantwortung für ihr Leben und ihre Zukunft übernehmen. Und mit diesem Selbstbewusstsein auch zu einer friedlichen Koexistenz mit anderen in der Lage sind.
Eine Delegation aus der Westbank war gerade in Berlin. Wir besuchten einen Gottesdienst in der Berliner Sophienkirche zur Erinnerung an Martin Luther King Jr., der 60 Jahre zuvor dort über die Liebe gepredigt hatte, die allein den Hass überwindet. Die Koordinatorin der schulischen Arbeit unserer Partnerkirche saß neben mir. Sie war sehr bewegt. „We shall overcome“ sangen wir zum Abschluss und sie sagte zu mir: „Das Lied nehme ich mit; wir sollten das in unseren Schulen singen. Jeden Morgen.“ – „Deep in my heart, I do believe, oh we shall overcome some day.“
Some Day. Der Tag wird kommen. Immerhin können wir schon davon singen.
Simon Kuntze ist Pfarrer und Nahost-Referent im Berliner Missionswerk. Er ist der wichtigster Ansprechpartner der Partnerkirche in Nahost, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL)