Artikel teilen:

Mutlos oder vorbildlich?

Bundestag beschließt Gesetz zur Barrierefreiheit, das jedoch nur in Bundesbehörden gilt. Da bleibt die Kritik nicht aus

Rolf Zoellner

BERLIN – Die ganze Nacht über hatten behinderte Menschen am Spree-Ufer beim Bundestag ausgeharrt und protestiert, weil ihnen das Gesetz zur Barrierefreiheit nicht weit genug geht. Als die Abgeordneten es in Berlin mit den Stimmen der Koalition verabschiedeten, saßen einige von ihnen auf der Zuschauertribüne und konnten verfolgen, wie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ihr Gesetz gegen „Fundamentalkritik“ verteidigte. Dabei gestand sie jedoch offen ein, dass der Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) ein entscheidender Punkt fehlt: Barrierefreiheit wird nur den Bundesbehörden vorgeschrieben.
In der Privatwirtschaft oder im kulturellen Leben bleiben behinderte Menschen darauf angewiesen, dass ein Kinobetreiber oder ein Arzt freiwillig eine Rampe aufstellt oder seiner Internetseite eine Tonspur hinzufügt, damit sich auch ein Blinder informieren kann.
 Der Aktivist Raúl Krauthausen gehört zu den Fundamentalkritikern. Er sagte, das einzig Positive an den Gesetzesvorhaben der Bundesregierung sei, dass überhaupt über die Lage behinderter Menschen debattiert werde.
Im Parlament machten sich die Grünen und die Linksfraktion die kritischen Stimmen aus der Behindertenbewegung zu eigen. Corinna Rüffer von den Grünen sprach von einem „mutlosen“ Gesetz. Katrin Werner von der Linksfraktion nannte es lebensfern: „Das Leben der Menschen spielt sich nicht in den Bundesbehörden ab.“ Der Behindertenpolitiker der Union, Uwe Schummer (CDU), hielt der Opposition entgegen, was der Bund tue, habe Vorbildcharakter. Die Wirkungen des Gesetzes reichten weit über seinen Geltungsbereich hinaus.
Dem neuen Gesetz zufolge soll  ein Meldesystem für weiterbestehende Stolperstellen eingerichtet werden. Behördenbescheide an lern- oder geistig behinderte Menschen müssen auch in Leichter Sprache verschickt werden. In der Bundesverwaltung soll Informationstechnik eingesetzt werden, die auch behinderte Menschen anwenden können. Zudem wird eine Bundesfachstelle zur Barrierefreiheit eingerichtet, die Kommunen und Privatunternehmen beraten kann. Eine Schlichtungsstelle soll in Streitfällen pragmatische Lösungen vorschlagen. Sehbehinderte können dem Gesetz zufolge ihre Blindenhunde überallhin mitnehmen. Beschlossen wurde auch, dass die Behinderten-Organisationen in diesem Jahr 500 000 Euro zusätzlich erhalten, vom kommenden Jahr an eine Million Euro mehr. epd