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“Muslime müssen sich zum Existenzrecht Israels bekennen”

Wie geht es nach den Hamas-Terroranschlägen auf Israel weiter mit dem interreligiösen Dialog in Bayern? Der Antisemitismusbeauftragte der Staatsregierung, Ludwig Spaenle (CSU), hat islamische Verbände aufgefordert, sich öffentlich vom Hamas-Terror zu distanzieren. Der Vorstandsvorsitzende des Münchner Forums für Islam, Imam Benjamin Idriz, schrieb derweil, er erwarte von Vertretern des christlichen und jüdischen Glaubens, „dass sie die Massaker an Kindern, Frauen und Kranken in den Krankenhäusern im Gazastreifen offen verurteilen“. Der evangelische Münchner Stadtdekan Bernhard Liess, der auch Mitglied im Sprecherrat des Rats der Religionen ist, äußert konkrete Erwartungen an die Muslime.

epd: Was erwarten Sie von den islamischen Gemeinden in München?

Liess: Ich erwarte von allen Muslimen und allen islamischen Verbänden, dass sie sich klar vom Terror der Hamas gegen den Staat Israel distanzieren. Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Diese Distanzierung muss öffentlich geschehen. Und in diesen Erklärungen müssen zwei Formulierungen vorkommen: „Terror der Hamas“ und „Staat Israel“. Denn damit wird klar formuliert, dass der Staat Israel ein Existenzrecht hat – in dieser Frage darf kein Hintertürchen offenbleiben. Diese Klarheit brauchen wir als Vorbedingung für den interreligiösen Dialog. Ich begrüße, dass Imam Benjamin Idriz jegliche Gewalt als nicht-islamisch ablehnt. Ich hätte mir gewünscht, dass er dabei nicht nur von einem Land spricht, „das die einen Palästina, die anderen Israel nennen“, sondern von Israel. Denn der Anschlag fand auf israelischem Territorium statt.

epd: Werden die Geschehnisse im Münchner Rat der Religionen debattiert?

Liess: Wir sind alle noch sehr schockiert. Vor allem unsere jüdischen Geschwister sind tief verängstigt, entsetzt und verunsichert. Sie trauern oder sorgen sich um ihre Angehörigen und Freunde in Israel. Wir können ihnen momentan nur unsere Solidarität, Nähe und Freundschaft zusichern. Daneben müssen wir mit unseren muslimischen Partnern gut ins Gespräch kommen. Wir brauchen ihre klare Distanzierung. Die Frage nach dem Existenzrecht Israels ist der Lackmus-Test für den interreligiösen Dialog.

epd: Aber bei solchen Gesprächen wird sicherlich auch die Frage der Palästinenser in den besetzten Gebieten zur Sprache kommen, oder?

Liess: Das wird so sein. Aber um das deutlich zu machen: Bevor wir über Siedlungspolitik sprechen, muss es ein Bekenntnis geben, dass der Terror der Hamas keinerlei Legitimation und der Staat Israel ein unverbrüchliches Existenzrecht hat. Die Situation in der Westbank ist kein Grund, das infrage zu stellen oder Israel als Apartheitsstaat zu bezeichnen, wie BDS das tut. Die Palästinenser haben ein Recht auf Sicherheit und Frieden und einen eigenen Staat. Allerdings sind sie nicht nur Opfer – das ist ein verbreitetes Narrativ, auch bei manchen unserer muslimischen Freunde. Die Geschichte des Nahost-Konflikts ist eben sehr viel komplizierter und nicht in den Kategorien Schwarz-Weiß zu fassen.

epd: Droht denn dann im Ernstfall ein Ende des interreligiösen Dialogs in München?

Liess: Der interreligiöse Dialog darf nicht am Ende sein. Wir müssen immer im Gespräch bleiben, wir müssen einander gut zuhören. Beim Thema Antisemitismus haben wir in der Vergangenheit schon oft mit einer Stimme gesprochen, so zum Beispiel nach dem Israel-Gaza-Konflikt im Jahr 2021 mit seinen antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland oder nach dem Anschlag in Halle. Deutlich hat der Rat damals alle Angriffe auf jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen in Deutschland verurteilt. Bei der Frage des Antisemitismus in Deutschland gibt es keine Unklarheiten. Aber beim Thema Nahost.

epd: Muss sich die islamische Gemeinschaft insgesamt stärker mit judenfeindlichen Aussagen im Koran auseinandersetzen?

Liess: Es ist immer problematisch, anderen Religionen den Umgang mit ihren Schriften zu diktieren. Pauschalverurteilungen des Islam sind falsch. Wenn Nicht-Muslime den Koran aufschlagen, eine Sure zitieren und dann sagen: „Hier steht’s doch, wundert euch nicht“, dann muss ich sagen: Alle unsere Religionen haben leider auch ein Potenzial zur Gewalt. Gerade deshalb braucht es gute, historisch-kritische Interpretationen unserer Texte. (00/3399/19.10.2023)