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Menschenrechtler sieht wachsende Verfolgung von “Nichtreligiösen”

Der Publizist Martin Lessenthin beobachtet eine wachsende Verfolgung von Menschen, die sich offen als „nichtreligiös“ bekennen und ihre ursprüngliche Religion verlassen haben. Dies sei besonders in islamischen Staaten zu erkennen, sagte Lessenthin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Historiker ist seit 2023 Mitherausgeber der Jahrbücher für Religionsfreiheit und Botschafter für Menschenrechte. Von 2001 bis 2023 wirkte Lessenthin als Vorstandssprecher der Menschenrechtsorganisation IGFM.

epd: Welche Rolle spielt der Islam, wenn es um die Verfolgung von anderen Religionen geht? Wird der Islam von einigen Staaten bei der Verfolgung von Andersgläubigen missbraucht oder ist die islamische Religion per se feindlich gegenüber anderen Glaubensrichtungen?

Lessenthin: Den Islam gibt es nicht und es gibt zahlreiche aktuelle und historische Beispiele für ein friedliches und konstruktives Miteinander von Muslimen mit Christen oder Gläubigen anderer Religionen. Wir erleben aber 2024 auch einen gewaltbereiten und gewalttätigen politischen Islam. Islamistische Fulani Milizen und Boko Haram in Nigeria, El Shabab in Somalia, Hamas, Islamischer Dschihad, Hisbollah, Huthi Milizen, El Kaida, Islamischer Staat. Trotz zahlreicher Unterschiede haben diese kämpfenden Extremisten Gemeinsamkeiten. Sie alle werden von außen gesteuert oder zumindest benutzt und sie alle wollen ihre politischen und wirtschaftlichen Gruppeninteressen durchsetzen, zulasten anderer Gruppen, Gemeinschaften und Ethnien.

Staaten wie der Iran, die Andersgläubige im eigenen Land unterdrücken, unterstützen zugleich den Terror von Islamisten in anderen Staaten. Dies geschieht im Namen der Religion. Geostrategische, wirtschaftliche und politische Ziele bilden eine Einheit mit dem Anspruch auf religiöse Führerschaft.

epd: Was steht hinter der Gewalt gegen Christen in Nigeria?

Lessenthin: Die Ursachen für den Terror gegen Christen in Nigeria haben ebenfalls verschiedene Komponenten. Neben ethnischen und religiösen Rivalitäten spielt der Kampf zwischen Nomaden und Bauern um das Acker- und Weideland eine wichtige Rolle. Es ist auch in Nigeria leicht, die Religion vorzuschieben und den Terror damit als Begleiterscheinung zu marginalisieren.

epd: In welchem Ausmaß werden Menschen weltweit verfolgt und ausgegrenzt, die sich zu keiner Religion bekennen?

Lessenthin: Es ist nicht möglich, verlässliche Zahlen zu nennen. Nicht zu übersehen ist aber eine wachsende Verfolgung von Menschen, die sich offen als „nichtreligiös“ bekennen und deutlich machen, dass sie die traditionell vorherrschende Religion verlassen haben. Dies ist besonders zu erkennen, wenn man gezielt auf Staaten wie die Islamischen Republiken Afghanistan, Pakistan und Iran, die unter Scharia-Recht stehenden Bundesstaaten Nigerias oder auf islamische Monarchien wie Saudi-Arabien oder Katar blickt, die dem Islam den Rang als Staatsreligion gewähren.

epd: Warum werden Menschen überhaupt aufgrund Ihrer Religion oder Weltanschauung verfolgt? Gibt es hierzu Theorien?

Lessenthin: Jede Verfolgung und jede Aggression nach außen können den Herrschenden zum Machterhalt dienen. Eine vermeintliche Bedrohung von außen und eine vermeintliche Gefährdung im Inneren durch Minderheiten, Andersdenkende und Sündenböcke kann von Unzufriedenheit und schweren Problemen ablenken und eine bröckelnde Macht stabilisieren.

epd: Warum werden Religionen auch von anderen Religionen verfolgt?

Lessenthin: Diskriminierung und Verfolgung können auch von intoleranten und nach Dominanz strebenden Religionen und deren Führern befördert sein. Dies ist zum Beispiel auf der von Russland annektierten Krim der Fall. Die russische-orthodoxe Kirche (ROK) nutzt und befördert die gewaltsame und unrechtmäßige staatliche Ausweitung Russlands, um die eigene Expansion voranzutreiben. Dies gilt für alle „neurussischen“ Territorien. ROK-Priester und Bischöfe, die dem Angriffskrieg Putins widersprechen, werden zum Schweigen gebracht, verlieren ihre Ämter oder werden sogar aus der Kirche ausgeschlossen.

epd: Wenn Sie in die Geschichte schauen – auch mit Blick auf frühere sogenannte Religionskriege: War Verfolgung aus religiösen Gründen im Verhältnis gesehen früher schlimmer, was das Ausmaß und die Zahlen angeht?

Lessenthin: Verfolgung und Diskriminierung sind sehr schwer abzugrenzen. Das gilt besonders über die Jahrhunderte und Jahrtausende. In der Bewertung kommt es auf die geschichtliche Epoche an. Natürlich auch auf Bevölkerungszahlen, Dauer der Verfolgung, Zeit und Ort. Die Religionskriege nach der Reformation in Deutschland galten für viele als schlimmste Leidenszeit, bedingt durch religiös-politische Kämpfe. Aber das ist nur unsere Sicht in Deutschland und Mitteleuropa gewesen.

epd: Mit Blick auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober: Was kann die Bundesregierung tun, um jüdische Mitbürger besser zu schützen?

Lessenthin: Sie muss Menschen in die Schranken weisen, die religiösen Hass verbreiten, Verständnis für die Täter äußern und diese schützen. Sie muss auch deutlich machen, dass diejenigen, die zu uns kommen, aber religiöse Toleranz nicht akzeptieren und praktizieren, keinen Platz bei uns beanspruchen können. Eine Toleranz für gewalttätige Intoleranz hat bei uns keinen Raum.

epd: Was kann die deutsche Regierung tun, um die Religionsfreiheit in anderen Ländern zu verbessern, etwa in China oder Indien?

Lessenthin: Deutschland muss weg vom „Business as usual“. Die religiöse Selbstbestimmung und die Menschenrechte dürfen für keinen Menschen und durch keinen Staat eingeschränkt werden. China wie Indien wollen mit Deutschland gute Geschäfte machen. Dafür müssen sie zeigen, dass sie die elementaren Rechte achten. Die Verfolgung von Hauskirchengemeinden, die brutale Bekämpfung des tibetischen Buddhismus und der muslimischen Uiguren durch die Kommunistische Partei Chinas müssen immer Thema sein, wenn sich Regierungsvertreter begegnen.

Diskriminierende Anti-Konversionsgesetze, Hassverbrechen und Mordanschläge durch Hindu-Extremisten dürfen von den in Indien Regierenden nicht heruntergespielt oder gar geleugnet werden. Die aufstrebende Weltmacht Indien ist eine Demokratie. Religiöser Hass steht im Gegensatz zur Entstehungsgeschichte der Gründer der indischen Bundesrepublik.

Lessenthin: Nach Juden und Christen: Welches sind die am meisten gefährdetsten religiösen Gruppierungen weltweit?

epd: Opfer von Verfolgung sind oft kleinere Religionsgemeinschaften und Gesinnungsgemeinschaften, wie Jesiden und Mandäer im Irak, Bahai und Sufis im Iran, Ahmadiyya in Pakistan. Neben den staatlichen Verfolgern sind vor allem nichtstaatliche religiöse Fanatiker die Täter. Sie müssen in der Regel nicht mit juristischen Konsequenzen rechnen, da ihre Opfer mit keinerlei gesetzlichem oder staatlichem Schutz rechnen können. Ihre Verfolgung ist oft verbunden mit Zwangskonversion, Versklavung, Kindesentziehung und sexuellem Missbrauch.

Lessenthin: Macht es Sinn – wie jüngst im Weltverfolgungsindex von Open Doors – die Verfolgung von einzelnen Religionen besonders hervorzuheben?

epd: Das erweckt Aufmerksamkeit, hat aber für die betroffenen Opfer zunächst nur begrenzten Nutzen und eine solche Fokussierung birgt Gefahren in sich. Wichtigste Gefahren sind die Überlagerung der guten Absicht durch den erweckten Eindruck von Einseitigkeit, Alarmismus und die Klischeebildung. Wenn aber erst der Eindruck verfestigt ist, man trete nur für die eigene Religion ein, ist der moralische Anspruch, für das Wohlergehen, die religiöse Selbstbestimmung und die Menschenwürde aller einzutreten, bereits verloren.