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Mendel: “Wir haben ein ernsthaftes Problem mit Antisemitismus”

In Leipzig beginnt am Dienstag der Prozess gegen den jüdischen Sänger Gil Ofarim. Laut Anklage soll er gelogen haben, als er einem Leipziger Hotelmitarbeiter Antisemitismus vorwarf. Das mutmaßliche Verhalten des Musikers hat Folgen für die gesamte jüdische Communtiy. Der Evangelische Pressedienst (epd) sprach darüber mit dem Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, Meron Mendel. Er findet, in diesem Fall gibt es nur Verlierer.

epd: In Leipzig wird der Prozess gegen den Musiker Gil Ofarim unter anderem wegen des Verdachts der Verleumdung und falscher Verdächtigung erwartet. Mit welchen Gedanken blicken sie auf die Hauptverhandlung?

Mendel: Als das Video von Ofarim damals viral ging, habe ich erst einmal nicht reagiert. Trotz der großen Aufregung war ich sehr zurückhaltend. Zwar wollte ich dem Musiker nicht unterstellen, dass er Fake News verbreitet. Aber so eine riesige Welle der Empörung, so ein virtueller Mob, kann sehr gefährlich sein. Ich dachte, warten wir ab. Der Fall hat auch wegen der Popularität des Sängers sehr viel Aufmerksamkeit bekommen. Dabei gibt es jeden Tag in Deutschland tatsächliche Fälle von antisemitischer Beleidigung. Es ist tragisch, dass ein offenbar erfundener Fall so sehr beachtet wurde. Einmal mehr hat sich herausgestellt, dass schnelle Vorverurteilung in den sozialen Netzwerken ein großes Gefahrenpotenzial birgt.

epd: Ofarim hat einem Leipziger Hotelmitarbeiter Antisemitismus vorgeworfen. Jetzt soll er sich unter anderem wegen Verleumdung verantworten, weil er offenbar gelogen hat. Was bedeutet der Fall für die jüdische Community?

Mendel: In diesem Fall gibt es nur Verlierer. Schon jetzt ist die Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle sehr hoch. Viele Fälle werden nicht gemeldet. Wir versuchen, Menschen zu ermutigen, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Aber oft trauen sich Betroffene das nicht. Nach so einem Fall mit Ofarim wird sich das nicht ändern, vielleicht werden dann noch weniger Vorfälle zur Anzeige gebracht.

epd: Was bedeuten die aktuellen Entwicklungen in Israel für den Prozess gegen Ofarim?

Mendel: Der Gerichtsprozess wird sicherlich in den Kontext der laufenden Debatte über den Krieg in Israel und den Antisemitismus hierzulande gestellt werden. Das Leipziger Landgericht hat darauf bereits reagiert und die Sicherheitsvorkehrungen für die Verhandlungstage erhöht. Darüber hinaus kann ich nur sagen, dass es in Folge des Hamas-Terrors vom 7. Oktober eine extreme Zunahme an antisemitischen Hasstaten in Deutschland gibt, denen dieser Tage unsere Aufmerksamkeit gebühren sollte. Wir haben ein ernsthaftes Problem mit Antisemitismus in Deutschland, daran ändert der Einzelfall Gil Ofarim nichts.

epd: Wie nehmen Sie die derzeitigen Proteste und Demonstrationen in Deutschland zum Nahost-Konflikt wahr?

Mendel: Es hat mich erschüttert, zu sehen, wie wenige klar Stellung gegen die brutalen Terrorakte des 7. Oktobers bezogen haben. Gleichwohl ist es legitim, auch Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza zu zeigen und für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser auf die Straße zu gehen. Ich halte nichts davon, derartige Demonstrationen pauschal zu verbieten. Wo es zu Gewalt oder antisemitischen Äußerungen kommt, müssen diese konsequent geahndet werden.

epd: Welche Wirkung hat der Fall Ofarim laut Ihrer Einschätzung nach außen?

Mendel: Ofarim steht natürlich nicht für die gesamte jüdische Community. Sollte sich sein mutmaßliches Fehlverhalten bestätigen, handelt es sich um einen Einzelfall. Aber der Fall hat schon jetzt ein Klima des Misstrauens geschaffen. Das ist verheerend. Wenn sich der Verdacht gegen ihn bestätigt, kann man sein Verhalten nur aufs Schärfste verurteilen. Ofarim hätte nicht nur dem Leipziger Hotelmitarbeiter geschadet, sondern auch der gesamten jüdischen Community.

epd: Wie verwurzelt ist Ihrer Meinung nach der Antisemitismus in Deutschland?

Mendel: Diese Frage erübrigt sich im Land der Shoah eigentlich von selbst. Aber um es noch einmal deutlich zu sagen: Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist fest verwurzelt in unserer Gesellschaft. Gerade zeigt sich der israelbezogene Antisemitismus in muslimischen und linken Communitys besonders deutlich – darüber dürfen wir aber nicht vergessen, dass Antisemitismus auch konstitutiv für extrem rechte Ideologien und weit darüber hinaus auch in der bürgerlichen Mitte unserer Gesellschaft verankert ist.