Seit dem Tod meines Mannes verbringe ich den Heiligen Abend immer allein. Aber es braucht mich niemand zu bedauern deswegen. Ich bleibe ja nicht allein. So wie ich behutsam die uralten Christbaumkugeln, wachsbekleckert und in Seidenpapier gehüllt, aus dem brüchigen Karton gehoben habe, so hüte ich noch einen weiteren Schatz, der mich an diesem Abend erreichen und beglücken wird.
In meinem Leben bin ich nicht weit herum gekommen. Es hat sich in einem kleinen begrenzten Bereich abgespielt. Aber dieser ist eng voll Leben, voll gelebten Lebens! Was ich davon wert hielt aufgehoben zu werden, ist liebevoll bewahrt und lauert darauf, dass ich es herausrufe aus meinem Herzen. Ich brauche ja nicht mehr handelnder Teilnehmer, Mitwirkende Darsteller zu sein – was damals einmal schmerzte, tut nicht mehr so weh und was mich beglückte, ruft heute noch ein Lächeln hervor.
Der Spielwarenladen war dicht umlagert
Da ich sehr alt bin, kann ich weit zurückschauen, wo vieles ganz anders war als heute. In der kleinen Stadt, in der ich aufwuchs, kündigte sich das Nahen des Weihnachtsfestes dadurch an, dass es schneite. Außer dem Tannenbaum auf dem Markt gab es kaum festlichen Schmuck. Im Schaufenster unseres Kaufmanns war eine Batterie von Schokoladenweihnachtsmännern aufmarschiert, große und kleine, aber alle gleichsam nackt. In schönes Stanniol gewickelt war damals keiner.
Im Laden prangte ein schneebedeckter Tannenzweig aus Pappmache mit zwei goldenen Glocken dran, und alles glitzerte und funkelte. In meiner Heimatstadt gab es nur ein Geschäft für Spielsachen. Sein Schaufenster war in der Weihnachtszeit dicht umlagert von Kindern. Die Jungen drängten sich immer vor, sodass wir kleinen Mädchen kaum einen Blick auf die ausgestellten Herrlichkeiten werfen konnten. Mein Vater hob mich einmal hoch und ich erlebte eine Enttäuschung: Da war gar nichts Herrliches ausgestellt! Was ich sah, waren so bescheidene Spielsachen wie mein Bruder und ich sie längst zu Hause hatten.
Jede Schneeflocke ist ein filigraner Stern
Ein wirkliches Weihnachtswunder erlebte ich im ersten Schuljahr. Es schneite dicken nassen Schnee in großen Flocken. Unsere Lehrerin rief uns ans Fenster und zeigte uns, dass jede Flocke ein filigran-feiner Stern war, keiner wie der andere, und alles kam vom Himmel. Was mochte dort oben noch alles warten!
Eines Sonntagmorgens in der Adventszeit rief mein Vater uns in den verschneiten Vorgarten. Da stand eine blaue Tanne und trug auf jedem Zweig eine brennende Kerze. Das schien mir wieder wie ein Wunder vom Himmel. Die Engel mussten es vollbracht haben, die kannte ich schon, und sie waren für mich ganz gegenwärtig.
Auf den vielen bunten Weihnachtskarten, die man einander damals zum Fest schickte, die ich sehr bewunderte und als Kostbarkeiten sammelte, fand ich häufig Engel abgebildet. Und im Krippenspiel in der Kirche war sogar einer leibhaftig aufgetreten. Meine Eltern waren an einem vierten Advent mit uns Kindern dorthin gegangen.
Im Krippenspiel erfuhr ich, warum wir Weihnachten feiern
Weihnachten, dachte ich, feiert man, weil der Weihnachtsmann unbedingt kommen wollte. Den hatte ich einmal erlebt, als er bei uns polternd einkehrte und mich in Angst und Schrecken versetzte. Zum Glück ließ er sich seitdem nie mehr bei uns sehen und kam immer dann, wenn wir am Heiligabend in der Kirche waren.
Im Krippenspiel erfuhr ich, was damals in Betlehem geschehen war, warum wir Weihnachten feiern. Die jungen Leute damals müssen mit großer Innigkeit und Anteilnahme gespielt haben, ich war völlig im Bann des Geschehens. Es war für mich gelebte Wirklichkeit, ich sehe es noch heute vor mir, und es ergreift mich wie damals.
“Es begab sich aber zu der Zeit…”
Ich schaue auf die vielen Weihnachten meines Lebens zurück – die üblichen mit einem harmonischen Elternhaus, die bescheidenen mit Sorge erfüllt im Krieg, das erste nach Kriegsende ohne Kerzen, Tannenbaum und Geschenke. Dann die vielen guten Jahre, in denen ich für andere schöne Weihnachten ausrichten durfte.
Wie diese Feste auch waren, geblieben ist das Wunder, das mir als Kind wie eine Offenbarung in jedem Weihnachtsgottesdienst aufgegangen ist. Ich höre die liebe Stimme meines Mannes: „Es begab sich aber zu der Zeit…“ und an Engel glaube ich heute noch. Das alles genügt mir für einen Weihnachtsabend ganz allein. Damit bin ich beschenkt und reich.