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Mehr als ein Theaterstück

Sie sollen den Speicher aufräumen und haben dabei ein „Aha-Erlebnis“: Fundstücke enthüllen den jugendlichen Protagonisten in dem Theaterstück „Vergissmeinnicht“ Verstrickungen von Franzosen und Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Premiere der deutschen Fassung ist am 7. Januar.

„Das Theaterstück konkretisiert die vielbeschworene deutsch-französische Freundschaft“, sagt Volker Schütze dem Evangelischen Pressedienst (epd). Jugendlichen sei die besondere Beziehung von Deutschland und Frankreich oft nicht mehr bewusst, ist der Geschäftsführer der Deutschen Kriegsgräberfürsorge Nordbaden (Karlsruhe) überzeugt. Trotz Einkaufstouren ins Elsass fehle ein gemeinsames europäisches Empfinden, so Schütze. Das Elsass sei ein „Brennglas europäischer Geschichte“, betont er.

Rund 130.000 Franzosen wurden von der deutschen Wehrmacht nach der Annexion von Elsass-Lothringen zwischen 1942 und 1945 zwangsrekrutiert. Nach ihrer Rückkehr stießen sie auf Misstrauen in ihrer Heimat. Ihre Landsleute verdächtigten sie, Kollaborateure der Nazis gewesen zu sein.

Die Zwangsrekrutierten gaben sich den Namen „Malgré-nous“, was auf Deutsch heißt: gegen unseren Willen. Die Grenzregion zwischen Vogesen und Rhein war seit rund 150 Jahren zwischen Deutschland und Frankreich umstritten gewesen und hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts zweimal die Staatszugehörigkeit gewechselt.

Den Stoff für „Vergissmeinnicht“ lieferte das „Centre Albert Schweitzer“ in Niederbronn-les-Bains (Département Bas-Rhin). Hier lagern im Familienarchiv rund 350 Biografien. „Sie sind ein sehr lebendiges Material“, sagt die Leiterin der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte, Joëlle Winter. Sie ist gleichzeitig die Initiatorin des Theaterstücks.

Die Idee für das historische Stück entstand während der Corona-Pandemie 2020. Die Begegnungsstätte und der Gedenkort für 15.000 umgebettete, gefallene Soldaten hatten in der Zeit der Lockdowns keine Kundschaft mehr. „Wir haben uns überlegt, was wir anstelle der Führungen Konstruktives pädagogisch leisten können“, erinnert sich Winter.

Das Theaterstück soll die „wechselhafte Geschichte der Region zeigen und im Ergebnis künstlerisch ansprechend sein“, sagt sie. Unterstützung erhielt Winter vom Volksbund und dem Theater „Eurodistrict Baden Alsace“ in Offenburg und Straßburg. Das Drehbuch schrieb der elsässische Autor Gabriel Schoettel.

Herausgekommen ist ein Theaterstück für Schülerinnen und Schüler ab der achten Klasse und Erwachsene. Der Geschäftsführer des Theaters „Eurodistrict Baden Alsace“, Guido Schumacher, nennt es einen „lebendigen Fremdsprachenunterricht“. Interessant sei es, das deutsche und das französische Theaterstück anzusehen. Sie zeigten zwei unterschiedliche Perspektiven ein und derselben Geschichte, sagt er.

Sowohl die Rollen als auch die Regie sind in der deutschsprachigen Variante neu besetzt. Allein die Rolle der Mutter wird in beiden Bearbeitungen von derselben Schauspielerin gespielt. Die zweisprachige Figur verleihe dem Stück zusätzlich „Authentizität“, betont Schumacher.

Die jungen Elsässer, Camille und Lucas, stammen aus deutsch-französischen Familien. Bei der Aufräumaktion auf dem Dachboden des Hauses kommen sie der Geschichte ihrer Vorfahren auf die Spur. Sie drehen die Zeit zurück, entdecken Familiengeheimnisse. Es wird Zeit, sich Brüchen in den Biografien zu stellen.

Die dargestellte Familiengeschichte beleuchtet einerseits die deutsch-französischen Beziehungen. Weiter zeigt das Stück beispielhaft Schicksale von Menschen, die in der Kriegsgräbergedenkstätte in Niederbronn-les-Bains ihre letzte Ruhe fanden. Rund 1.800 französische Schülerinnen und Schüler sahen seit Oktober 2022 die französische Version „Ne m’oublie pas“.

Am 7. Januar ist am Hauptspielort des europaweit einzigen binationalen Theaterensembles, in Neuried (Ortenaukreis), Premiere der deutschen Fassung. Am 17. und 19. Januar kommt „Vergissmeinnicht“ in deutscher und französischer Sprache ins Sandkorntheater nach Karlsruhe. (0026/04.01.2024)