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Mauerblümchen auf der Spur

«Krautschauen» machen die unscheinbaren Pflanzen der Stadt sichtbar

Frankfurt a.M. (epd). Am Brunnen auf dem Frankfurter Merianplatz geht es los. Kinder verzieren ihn mit Blumen, in den Händen haben sie Straßenmalkreide. «Mehr als Unkraut» steht in großen Buchstaben auf dem Fuß des Brunnens. Daneben kniet Julia Krohmer, ebenfalls mit Straßenkreide in der Hand, neben sich einen Pflanzenführer. Die Wissenschaftskoordinatorin der Senckenberg Gesellschaft für
Naturforschung hat zur «Krautschau» eingeladen.

   Unter den Hashtags #Krautschau oder #MehralsUnkraut posten Menschen in Deutschland auf Twitter Bilder von Pflanzen, die sie auf Gehwegen, an Straßenrändern und Parkplätzen entdecken. Pflanzen, an denen man meist achtlos vorbeigeht, die sich ihren Weg durchs Pflaster suchen. Dazu stellen sie den Pflanzennamen. Guerilla- oder Rebellenbotaniker nennen sie sich.

   Als einer der Erfinder dieser Idee gilt Boris Presseq. Der Botaniker am Naturkundemuseum von Toulouse schreibt seit einigen Jahren mit Kreide die Namen von Wildpflanzen auf die Bürgersteige, um Stadtbewohnern bewusst zu machen, wie vielfältig und wichtig die Natur um sie herum ist. «Sauvages de ma rue (»Die Wilden in meiner Straße«), heißt sein Projekt.

   In Frankfurt bückt sich Julia Krohmer, schaut sich ein unscheinbares grünes Etwas zwischen zwei Pflastersteinen an. Mit einer App auf dem Smartphone beseitigt sie letzte Zweifel: ein »Niederliegendes Mastkraut«. »Meine Lieblingsart«, sagt Krohmer. Die zarte, kleine Pflanze wirkt beim oberflächlichen Hinschauen wie Moos. »Aber wenn man sie lässt, sie Platz hat, wird sie zu einem dreidimensionalen Gebilde mit Blüten«, schwärmt Krohmer.

   In Städten würden zwar Bäume wahrgenommen für das Großklima, die Flora in Spalten, Fugen und Ritzen aber nicht, kritisiert sie. Dabei bildeten die kleinen Pflanzen einen nützlichen Lebensraum für Käfer, Ameisen und viele andere Insekten. Mit tiefen Wurzeln holten sie sich im trockenen Lebensraum Stadt das Wasser aus dem Boden. »Sie können aber so auch helfen, Wasser in den Boden zu leiten.«

   Rund 500 Pflanzenarten hätten sich bundesweit »daran gewöhnt, von Füßen getreten und Hunden angepinkelt zu werden«, wie Krohmer es formuliert. Viele wachsen flach am Boden, sind außerordentlich trittfest wie der Breitwegerich oder das Kahle Bruchkraut. Gebirgspflanzen passten sich auffällig häufig gut an das Leben in der Stadt an, berichtet die Pflanzenexpertin.

   Jetzt sind die rund 15 Teilnehmer und Teilnehmerinnen der »Krautschau«, vom Kind bis zur Rentnerin, elektrisiert. Sie zücken die Handys, den Blick stier auf den Boden gerichtet – und machen Entdeckungen zwischen Glassplittern und Kaugummis.

   Löwenzahn, Feldehrenpreis, Gewöhnliches Hirtentäschel, Vierblättriges Nagelkraut, Gehörnter Sauerklee, Vogelsternmiere, Mäusegerste, Rispengras, Knolliger Beinwell, Echter Vogelknöterich: Schlag auf Schlag verraten Bestimmungsapps die Namen der Pflanzen, die sich durch den Asphalt bohren. Der Bürgersteig verwandelt sich in ein großes Kreidegraffiti.

   Teilnehmerin Marion Kehl führt eine Liste mit Pflanzen, die Krohmer bei einer Aktion im vergangenen Jahr entdeckt hat – und hakt nun ab, was erneut gefunden wird. Es ist trockener dieses Jahr, die 92 Arten aus 2021 werden wohl nicht erreicht, schätzt sie – und wird recht behalten.

   Die Gruppe ist jetzt in der Luisenstraße angekommen, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen hocken auf dem Gehsteig und zwischen parkenden Autos. Jochen Müller, der seine Töchter Jasmine und Sarah dabei hat, findet das Scheinerdbeer-Fingerkraut, eine aus Asien eingeführte und mittlerweile verwilderte Zierpflanze, deren Früchte wie Erdbeeren aussehen. Andere Pflanzen haben sich offenbar aus den nahen Vorgärten ausgesamt.

   In einer Parkbucht wuchern Zitronenmelisse und Bergminze, daneben eine rundblättrige lila Glockenblume, die Brigitte und Walter Frisch bestaunen. Das Paar hat aus der Tageszeitung von der Aktion erfahren und ist begeistert. »Ich habe gemerkt, wir blicken oft nur nach oben, aber wir sehen dadurch die Schönheit der Pflanzen nicht«, sagt Walter Frisch. »Die Pflanzen auf der Straße sollten als Teil der
Biodiversität der Stadt wahrgenommen werden«, fordert Krohmer.

   In Koblenz arbeitet Agraringenieurin Susanne Hildebrandt für das Projekt »Mehr als nur Grün.« Damit wollen der Landkreis Mayen-Koblenz und die Stadt Koblenz Impulse für die Gestaltung von privaten und öffentlichen Grünflächen geben. In Workshops lernten etwa Gemeindearbeiter, dass sie nicht jedes Flecken öffentliches Grün dauerhaft »nur kurz und klein halten.« Dass alles nicht immer »sauber« aussehen dürfe, wenn es der Artenvielfalt diene, sei manchmal schwer vermittelbar, sagt Hildebrandt.

   In Darmstadt haben Sonja Daum, Genevieve Walther und Florian Zenglein »Krautschauen« unternommen. Sie arbeiten im »Projekt Biodivkultur» für den Erhalt der Artenvielfalt. In Teilprojekten an der Technischen Universität Darmstadt werden unter anderem politische Handlungsmöglichkeiten ausgelotet oder Mähmethoden erprobt, die Insekten zugutekommen. Die «Krautschau» richte außerdem den Blick vom reinen Nützlichkeitsdenken weg, sagt Philosophie-Doktorandin Daum: «Die Pflanzen haben genauso wie wir das Recht zu existieren, haben einen eigenen Wert.»

   Julia Krohmer hofft jetzt, dass weitere Partner auf die Aktion aufmerksam werden. «Kirchen machen bisher meines Wissens nicht mit, dabei würde sich das gut eignen», sagt Krohmer. Schließlich fänden sich neben Kirchen oft «gute Vorplätze mit altem Pflaster und unregelmäßigen Ritzen, das ist besonders lohnend.»