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Liebeserklärung an das Lesen

„Pippi Langstrumpf“, Rilkes Duineser Elegien, das Neue Testament – so unterschiedliche Werke beeindrucken Menschen. Wie wirkt eigentlich Literatur? Eine Berliner Autorin war auf Spurensuche

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Er solle die Literatur stets wie eine Leidenschaft behandeln, hat der Großvater seinem Enkel eingeschärft. Später wird aus dem kleinen Jungen, der sich am liebsten in Opas Bibliothek aufhielt, ein weltberühmter Schriftsteller, der notiert: „Indem ich schrieb, existierte ich.“
Der Junge hieß Jean-Paul Sartre, und sein Bekenntnis zum Lesen als Passion ist nur eines von unzähligen Zitaten, die Andrea Gerk in ihr Buch „Lesen als Medizin“ eingewoben hat. Kaum ein Gelehrter, Philosoph oder Schriftsteller, der sich nicht einmal zur Wirkung von Lektüre auf sein Werk geäußert hat.

Bücher können Perspektiven verändern

Dass Bücher trösten, unterhaltend ablenken und Perspektiven verändern können, wisse jeder Leser, schreibt Andrea Gerk, die in Berlin als Kritikerin und Moderatorin tätig ist. Sie ist der Frage nachgegangen, wie genau diese Prozesse funktionieren: auf neurowissenschaftlicher Ebene, in Lesezirkeln und in der Abgeschiedenheit eines Klosters. Ihre teils skurrilen, teils berührenden Erfahrungen beschreibt sie in ihrem Buch „Lesen als Medizin“.
Allen Warnungen vor der Digitalisierung zum Trotz bleibt das Lesen ein beliebtes Hobby der Deutschen. Vor zwei Jahren sagten knapp 91 Prozent der Befragten in einer Umfrage von Statista, Kinder sollten lesen und mit Büchern aufwachsen. 79 Prozent bezeichneten das Lesen als „schönes und wertvolles Hobby“, 75 Prozent erhofften sich von Büchern einen Wissensvorsprung.
Über Freude und Anregung durch das Lesen sind sich viele Menschen einig. Auch die Idee einer heilsamen Wirkung von Literatur ist in der westlichen Kultur sehr alt. Als erster beschrieb sie der griechische Philosoph Aristoteles. Heute ist die sogenannte Bibliotherapie vor allem in Großbritannien, Skandinavien und den USA verbreitet; in Deutschland ist sie laut Gerk noch relativ unbekannt. In den 1950er Jahren gründete der New Yorker Psychiater Eli Greifer erste Poesietherapie-Gruppen. Elisabeth Kübler-Ross, die als Mitbegründerin der Sterbeforschung gilt, beschrieb, wie todkranke Kinder ihre Fragen, Ängste und Hoffnungen zum Tod oftmals in Gedichtform festhalten.Seit den 1970er Jahren wird dieser medizinisch-kreative Ansatz auch in Deutschland weiterentwickelt, seit 1984 vor allem durch die Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie. Sie habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Grundlagen kreativer Prozesse bei der therapeutischen Arbeit mit Lektüre, aber auch eigenem Schreiben zu erforschen, heißt es in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft.

Auf Bibelworte achten, die einem nahegehen

Weder als Hobby noch als Therapieform im psychologischen Sinne spielt Lektüre im kirchlichen Kontext eine Rolle. Die Benediktinerinnen, die Autorin Gerk im hessischen Kloster Engelthal besucht hat, bieten zwar Bibel- und Märchenseminare an. Ausführlicher widmet sich die Autorin jedoch einem anderen Aspekt: „Mit der Heiligen Schrift zu leben, aufmerksam für den Sinn ihrer Worte zu sein, ist ein konstituierendes Merkmal“ für das Leben im Kloster. So empfiehlt die Engelthaler Alt-Äbtissin denn auch, im Gottesdienst oder beim Lesen der Bibel auf Worte oder Sätze zu achten, die einem nahegehen, und sie sich später noch einmal vorzunehmen.
Solche praktischen Ratschläge finden sich zuhauf in Gerks Buch. Lektüretipps der Autorin sowie ihrer Interviewpartner gibt es jede Menge. Gerks Buch ist in jedem Falle unterhaltsam. Ob der Einzelne den Band als Sachbuch oder als Ratgeber empfindet, ist eher zweitrangig, denn Gerk hat vor allem eines geschrieben: eine Liebeserklärung an das Lesen.KNA

Hinweis: Andrea Gerk, Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung von Literatur, Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2015, 352 Seiten, 22,95 Euro.