Im Mai hat das Bundeskabinett ein erstes Integrationsgesetz verabschiedet. Das umstrittene Gesetz, das noch vom Bundestag verabschiedet werden muss, sieht unter anderem ein Arbeitsmarktprogramm mit 100 000 Ein-Euro-Jobs vor. Zudem sollen mehr Flüchtlinge früher in Integrationskursen Deutsch lernen können. Zu beiden Maßnahmen könnten danach Flüchtlinge künftig auch verpflichtet werden. Dass Tempo gemacht werden muss bei der Integration von Flüchtlingen, meint auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie. Allerdings sieht der Chef des bundesweiten protestantischen Sozialwerks auch unnötige bürokratische Hindernisse. Mit Thomas Schiller sprach er über die Flüchtlingspolitik und über die möglichen Ursachen von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen in Flüchtlingsheimen.
• Als im Spätsommer 2015 die großen Flüchtlingsströme einsetzten, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Parole „Wir schaffen das“ ausgegeben und dabei viel Applaus der Kirchen erhalten. Wie sehen Sie das heute? Gelingt es, die nach Deutschland Gekommenen zu integrieren?
Integration ist ein Marathonlauf, der gerade erst beginnt. Wir müssen die Maßnahmen jetzt sehr schnell und sehr umsichtig umsetzen. Wir haben bei der Unterbringung von über einer Million Menschen ein hohes Tempo an den Tag gelegt. Das müssen wir beibehalten.
• Wie kann das gelingen?
Das gelingt vor allem durch das weiterhin erstaunliche Engagement von Tausenden von Menschen, die sich ehrenamtlich einsetzen: zum Beispiel in Kirchengemeinden, in Diakonie und anderen Wohlfahrtsverbänden, zunehmend aber auch in der Wirtschaft.
• An welchen Stellen klemmt es?
Es gibt nach wie vor unnötige Verzögerungen durch behäbige Verfahren. Häufig klemmt es an den Schnittstellen. Das eine Amt wartet auf das andere, und solange der zuständige Zettel fehlt, passiert nichts. Diese Denke können wir uns nicht erlauben. Wir brauchen eine Kultur der Kooperation und der Improvisation.
• An welchen Punkten muss konkret angesetzt werden?
Es werden nicht annähernd genügend Sprach- und Integrationskurse angeboten. Und nach wie vor liegt eine hohe Zahl von Fällen in der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Bearbeitung. Menschen sind 15 bis 18 Monate in einer Wartestellung. In dieser Zeit organisieren sie sich selbstverständlich selber. Wenn dann erst die Instrumente der Bundesagentur greifen, ist es viel zu spät.
nn Wie sehen Sie die Chance zur Integration in den Arbeitsmarkt?
Es geht darum, jetzt rasch Menschen in Arbeit zu bringen. Gemeinsame Arbeit mit anderen ist der schnellste Weg, in die deutsche Sprache und Kultur zu finden. Wir müssen dazu vor Ort Bündnisse schaffen. Migrationsdienste, Sozialämter, Bundesagentur und Ehrenamtliche müssen stärker vernetzt werden. Wir brauchen kommunale Bündnisse für gelingende Integration, wir brauchen eine Kultur der Runden Tische.
• Ziehen Sie mit der Wirtschaft am selben Strang?
Die Wirtschaft ist sehr ungeduldig, und mit der gleichen Ungeduld sehen wir im Moment die Abläufe. Meine Sorge ist: Wenn wir zu lange brauchen, arbeiten wir heute an der Parallelgesellschaft von morgen.
• Viele Ehrenamtliche sind schon seit Monaten im Einsatz. Wie halten Sie die freiwilligen Helfer motiviert?
Sicher nicht so, wie es kürzlich der bayerische Ministerpräsident versucht hat. Horst Seehofers Votum vom „notariellen Ende der Willkommenskultur“ ist unsäglich. Nach wie vor erlebe ich eine hohe Bereitschaft bei vielen Menschen, nachhaltig zu helfen. Das ist ein Schatz unser Zivilgesellschaft, der nicht leichtfertig durch populistische Sprüche konterkariert werden darf.
• Gleichwohl muss auch darüber geredet werden, dass es eine Reihe von Vorfällen in Flüchtlingsunterkünften gibt.
Die zum Teil reißerisch aufgemachten Berichte von Übergriffen auf Frauen, auf Kinder und auf Christen, aber auch auf Muslime und gleichgeschlechtlich Liebende in Lagern haben leider einen realen Hintergrund. Da sind wir sehr aufmerksam. Das ist nur zu regeln, wenn die Betreiber endlich verpflichtet werden, die Schutzstandards verbindlich zu gewährleisten. Dazu gehört etwas unter dem Stichwort „Fordern“ in das Integrationsgesetz.
• Sind Ihnen solche Vorfälle auch aus Heimen evangelischer Träger bekannt?
Wir haben keine Hinweise auf Übergriffe und Misshandlungen. Auch die Übergriffe auf Christen sind nach unseren Recherchen schlimme Einzelfälle. Aber überall da, wo eine große Enge herrscht und Menschen für lange Zeit auf wenig Raum zusammenleben müssen, steigt der soziale Druck. Darum müssen die Aufenthaltszeiten in solch beengten Umgebungen mit besonderen Standards versehen und zeitlich begrenzt sein. In unseren Einrichtungen haben wir vergleichsweise hohe Standards.
• Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei steht auf der Kippe. Welche Auswirkung hätte ein Scheitern auf die soziale Arbeit?
Die Auswirkungen eines Scheiterns wären enorm. Auch ich selbst habe erhebliche Fragen an die Türkei-Lösung. Faire Asylverfahren und Menschenrechte müssen selbstverständlich gewahrt bleiben. Aber ich habe auch Verständnis dafür, dass die Bundeskanzlerin angesichts der europäischen Situation diesen Weg gegangen ist. Wer jetzt in der Bundespolitik Verantwortung trägt, muss in einer komplexen Situation viele Faktoren gleichzeitig beachten – nicht zuletzt die schwierige inner-europäische Lage.
• Wenn der Flüchtlingsdeal funktionieren sollte und Flüchtlinge aus Syrien und Afrika künftig vor allem in Griechenland und in Italien landen und vorerst bleiben – wird die Diakonie dann einen Teil ihrer Hilfe in diese Länder verlegen?
Die Diakonie Katastrophenhilfe ist da schon in erheblichem Maße aktiv. Gleichwohl kann und wird Abschottung nicht die Lösung sein. Wir werden weiter und mit Nachdruck darüber reden müssen, wie Flüchtlinge aus ihren Herkunftsländern sicher und direkt nach Europa kommen können. Wir fordern zusammen mit vielen anderen seit Langem ein europäisches Resettlementprogramm mit einer klaren Verantwortungsübernahme aller Staaten der Europäischen Union. Das Menschenrechtsprojekt Europa wird nachhaltig beschädigt, wenn wir nicht zu einer gemeinsamen Haltung in der EU finden.