Die Berliner Charite hat sich zum Ziel gesetzt, Migranten besser in klinische Studien für die Krebsforschung einzubinden. Am Wochenende startet der erste Patientenkongress für Betroffene und ihre Angehörigen.
Wie repräsentativ sind klinische Studien in der Onkologie? Bilden sie die deutsche Gesamtbevölkerung gut genug ab? Migranten wie aus der Türkei, arabischen Ländern oder Vietnam seien in klinischen Studien der Onkologie bisher jedenfalls unterrepräsentiert, sagt Professor Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie am Campus Virchow-Klinikum. Deshalb hat die Charite in Berlin den ersten Interkulturellen Onkologischen Patientenkongress (IOPK) ins Leben gerufen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit Krebsforscher Sehouli am Mittwoch in Berlin über Stereotype, Barrieren bei der Verständigung und kultursensible Versorgung in der Onkologie.
KNA: Herr Professor Sehouli, warum dieser Kongress?
Jalid Sehouli: Weil Medizin für alle da ist. Die Wissenschaft soll der ganzen Bevölkerung helfen – und muss ihr deshalb erst einmal entsprechen. Wir sind da in der Bringschuld.
KNA: Was heißt das genau?
Sehouli: Dass Menschen an klinischen Studien teilnehmen, ist die Voraussetzung für die Weiterentwicklung von Therapiestandards. Das ist besonders in der Krebsforschung wichtig. Wenn gewisse Bevölkerungsgruppen bei diesen Forschungen aber ausgeklammert werden – neben Migranten sind das etwa auch Menschen über 80 mit Krebs – , dann kann man die Studienergebnisse nicht einfach unkritisch auf diese Menschen übertragen.
KNA: Was hat das für Folgen für diese Patienten?
Sehouli: Klinische Studien garantieren Überlebenschancen von Patientinnen und Patienten; hier werden neue Medikamente und Behandlungsmethoden getestet und evaluiert.
KNA: Gerade in Berlin wohnen türkisch- oder arabischstämmige Menschen. Woran liegt es, dass diese Menschen unterrepräsentiert sind?
Sehouli: Das ist auch ein strukturelles Problem. Nur wenige Kliniken nehmen an Studien teil. Und Ärzte bieten häufig nur das an, was sie auf Lager haben. Das heißt, sie informieren ihre Patienten nicht über Studien, die an anderen Kliniken stattfinden, weil sie ihre Patienten ja dann abgeben müssten.
KNA: Das betrifft dann aber auch Menschen ohne Migrationshintergrund…
Sehouli: Das stimmt. Aber Menschen mit Migrationshintergrund offenbar in besonderer Weise: Bei uns im Haus gab es kürzlich eine Studie unter 700 Frauen mit Brustkrebs, mit und ohne Migrationshintergrund. Dabei kam heraus, dass Frauen mit Migrationshintergrund seltener Studien angeboten bekommen haben.
Das sind manchmal unbewusste und manchmal bewusste Mechanismen. Und diese Benachteiligung wird es noch bei anderen Therapiekonzepten geben, nicht nur bei Studien. Allgemeine Stereotype der Gesellschaft finden sich auch im Gesundheitswesen wieder, der Arzt ist auch nur ein Mensch.
KNA: Ist das in anderen Ländern auch so?
Sehouli: Das ist ein Thema, das etwa in Studien in den USA schon lange bekannt ist und immer eingefordert wird: Vielfalt in den Rubriken Gender, Migration und Einkommen gehören etwa dazu. In Europa wird das Thema Diversität dagegen noch wenig berücksichtigt. Hier werden in medizinischen Studien noch viele Menschen als “Caucasian”, als sogenannte weiße Europäer, beschrieben – ein problematischer Begriff aus der Rassenlehre. Auch das Etikett “Other” – worunter dann alle anderen fallen – ist wenig aussagekräftig.
KNA: Was gibt es noch für Gründe, dass Migranten in den onkologischen Studien in Deutschland unterrepräsentiert sind?
Sehouil: Zum Beispiel die Sprachbarrieren: Das Aufklärungsmaterial zu Studien gibt es in bestimmten Sprachen einfach nicht – in Türkisch, Arabisch und Russisch zum Beispiel. Oder sie sind so formuliert, dass nur eine gut gebildete Person mittleren Alters alles versteht – ältere Menschen zum Beispiel auch nicht.
Manchmal fehlt zudem das kulturelle Verständnis: Es ist für viele erstmal ungewohnt, dass der Arzt mehr als eine Therapieoption anbietet. In Gesundheitssystemen anderer Länder ist das nicht unbedingt so.
KNA: Erkranken Migranten anders an Krebs oder haben sie andere Beschwerden?
Sehouli: Es gibt onkologische Studien, die sind erfolgreich in Europa, aber in Südkorea oder Japan nicht, da haben die Patienten plötzlich viel mehr Nebenwirkungen. Das hat mit einem anderen Stoffwechsel zu tun. Auch bestimmte Medikamente werden schneller oder langsamer verstoffwechselt bei bestimmten Ethnizitäten.
Es gibt aber auch andere Unterschiede – bei der Artikulationsfähigkeit zum Beispiel. Etwa bei einer Geburt sind manche lauter, manche leiser; das hat auch etwas mit dem Umgang von Emotionen zu tun. Das heißt nicht, dass die leisere Person weniger Schmerz empfindet.
Grundsätzlich gibt es viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Trotzdem ist es aber wichtig, alle Menschen zu erreichen. Wenn das nicht der Fall ist, müssen die Wissenschaftler ein großes Fragezeichen hinter ihre Studie machen.
KNA: Sie haben selbst marokkanische Wurzeln und sind in Berlin-Wedding aufgewachsen. Wie ist Ihre Erfahrung – muss man auch die Familien von migrantischen Patienten anders einbinden?
Sehouli: Es kann sein, dass Kinder der Zweiten Generation von Migranten eine andere Bedeutung für die Familie haben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil meine Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, viel an mich delegiert hat. Das ist manchmal eine Herausforderung für das Personal und kann auch Unruhe bringen, weil nicht klar ist, wer der richtige Ansprechpartner ist. Auch da braucht man Kommunikationsstrategien und interkulturelle Sensibilität.
KNA: Was erwarten Sie sich von dem Kongress?
Sehouli: Er soll ein erster Schritt sein, sich des Themas bewusst zu werden. Wenn zum Beispiel jemand Person of Colour ist, äußern sich bestimmte Hauterkrankungen anders, als wenn jemand eine helle Haut hat. Und wenn der Arzt da nicht trainiert ist, kann man davon ausgehen, dass es Fehldiagnosen geben wird. Es ist ein Risiko, nicht kultursensibel zu sein.