Menschen mit Lernschwierigkeiten haben oft keinen Zugang zu Büchern, weil sie deren Inhalte nicht verstehen. Bernd Heimbüchel, Leiter des Büros für Leichte Sprache und Vorstand des Instituts für Leichte Sprache und Inklusion (ISI) in Köln, erklärt im Gespräch mit Paula Konersmann, welches Potenzial in dieser Situation in Leichter Sprache steckt und was passieren müsste, um es zu nutzen.
• Was ist Leichte Sprache?
Sagen wir zuerst einmal, was sie nicht ist: Leichte Sprache wird manchmal zu Unrecht als Fachsprache bezeichnet. Und sie ist auch keinesfalls, das muss man betonen, eine Kinderspra-che. Leichte Sprache ist eine grammatikalische Form des Deutschen, die entwickelt wurde, um Menschen mit kognitiven Lernschwierigkeiten den Zugang zu Informationen zu erleichtern. Es handelt sich ausdrücklich um eine Schrift- und keine gesprochene Sprache.
• Sie übertragen unter anderem Behördentexte in Leichte Sprache. Wie funktioniert das?
Es handelt sich in der Tat um eine Übertragung, keine Übersetzung. Das bedeutet, dass man ein inhaltliches Äquivalent sucht: Man möchte möglichst viele Inhalte möglichst genau übertragen. Eine Übertragung ist indes immer auch eine Reduktion von Komplexität und damit letztlich von Inhalten. Das muss man in Kauf nehmen. Entscheidend ist der Verstehenshorizont der Menschen, für die die Texte bestimmt sind.
Daher arbeiten wir immer mit Menschen aus der Zielgruppe zusammen. Idealerweise beziehen wir sie schon bei der ersten Texterstellung ein, unbedingt aber dann, wenn ein erster Rohtext in Leichter Sprache erstellt worden ist. Unsere entsprechend ausgebildeten Prüfer untersuchen diesen Text auf Verständlichkeit. Wenn sie etwas nicht oder nur annähernd verstehen, stehen wir in der Pflicht, den Text nachzubessern, bis die Prüfer ihr O.K. geben.
• Liegt in der Verkürzung eine Gefahr?
Ja und nein. Wenn jemand beispielsweise einen bürokratischen oder politischen Fachtext nicht versteht, der ihm im Alltag begegnet, und mit Leichter Sprache versteht er dann 30 oder 40 Prozent – dann ist das bereits ein großer Fortschritt und oftmals sehr wichtig für diese Menschen. 100 Prozent sind da gar nicht das Ziel. Allerdings muss auch kaum jemand alle Unterpunkte eines Ge-setzestextes kennen, um zu wissen, welche Rechte er hat.
Im Büro für Leichte Sprache übersetzen wir zum Beispiel zurzeit das Grundgesetz. Da ist es das Wichtigste, zu erklären, dass in unserer demokratischen Gesellschaft alle Menschen gleichberechtigt sind. Denn: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es in Artikel 3. Dies zu verstehen und somit seine eigene Stellung in der Gesellschaft zu kennen, darauf kommt es an. Das bedeutet für uns Inklusion.
• Hat Leichte Sprache auch Potenzial etwa bei der Integration von Flüchtlingen?
Viele Asylbewerber sind ja hoch qualifiziert, nur schlicht des Deutschen nicht mächtig. Vom großen Potenzial, das die Leichte Sprache bei ihrer Integration haben könnte, bin ich überzeugt, auch davon, dass wir diese Menschen viel stärker in den Arbeitsprozess integrieren könnten. Dazu muss man auch diese Aufgabe politisch ernst nehmen und entsprechende Kurse für diese Menschen in Leichter Sprache konzipieren und anbieten. Auch daran arbeiten wir gerade.
• Wie hoch ist das Interesse an solchen Publikationen?
Der Absatz der Publikationen in Leichter Sprache, die es heute bereits gibt und die meistens von Ministerien oder anderen Behörden veröffentlicht werden, liegt immer um ein Mehrfaches über dem Anteil der ursprünglichen Zielgruppe, nämlich den Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Es gibt also breite Bevölkerungskreise in unserem Land, die das Bedürfnis haben, Themen für sie verständlich dargeboten zu bekommen. Das kann Flüchtlinge betreffen, aber auch Menschen, die Schwierigkeiten aufgrund ihrer Sozialentwicklung haben.
In Deutschland sind 7,5 Millionen Menschen – also 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung – funktionale Analphabeten*. Und weitere 13,5 Millionen Menschen – also 26 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung – haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben von Texten. Das heißt: Mehr als 40 Prozent können daher nicht in angemessener Form am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Um diese gewaltig große Gruppe kümmern wir uns in unserer Gesellschaft viel zu wenig.
• Ein Kritikpunkt lautet: Wenn ich Leichte Sprache verwende, ist das mit der Zuschreibung verbunden, mein Gegenüber sei darauf angewiesen.
Leichte Sprache sollte ein Angebot sein, ausgehend von den eben genannten Zahlen. Es ist nur richtig, wenn unsere Gesellschaft ihnen ein Angebot macht, damit alle in demokratische Verständigungsprozesse eingebunden werden.
• Andere kritisieren, Leichte Sprache könne Menschen erst recht davon abhalten, sich an komplexeren Texten zu versuchen.
Wenn der Text in Leichter Sprache das Maximum dessen ist, was jemand verstehen kann, ist dieses Argument schlicht unsinnig. Lernbehinderten Menschen kann man kaum vorhalten, dass sie einen Gesetzestext besser im Original lesen sollten. Zudem erleben wir in der Praxis das Gegenteil: Leichte Sprache ist kein Hindernis, sondern eine Einstiegsform. Sie versperrt nicht den Zugang zu Texten mit höherer Schwierigkeit und deren Verständnis, sondern öffnet die Türen.
Es fehlt an einheitlichen Standards
• Mittlerweile gibt es viele Projekte auch jenseits der Politik, etwa die Bibel in Leichter Sprache. Was halten Sie davon?
Dies ist absolut wünschenswert und entspricht einem Grundbedürfnis der Menschen, die nicht ausgeschlossen bleiben wollen. Sie wollen ja nicht nur politische oder bürokratische Aussagen verstehen. Sie möchten natürlich auch mal ein unterhaltsames Buch lesen, eine Liebesgeschichte, aber genauso einen religiösen Text oder ein Sachbuch zu ihrem Hobby. Leider gibt es in Deutschland bisher keine Stelle, die alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Leichter Sprache und damit auch die nötigen Standards koordiniert. Es gibt noch nicht einmal ein Verzeichnis all der vielen Texte, die bereits übertragen sind. Alles muss man sich mühsam zusammensuchen.
Ein weiteres Problem ist, dass sich derzeit viele Gruppen um Leichte Sprache kümmern, von denen ein großer Teil nur unzureichend qualifiziert ist. Engagement ist gut und wichtig. Aber wir müssen gerade bei Kommunikationsprozessen auch auf Qualität und Professionalität achten. Hier fehlt ein Standard auch für die Ausbilder in Leichter Sprache. Insofern sind all diese Projekte wie die genannte Bibelübersetzung absolut richtig. Aber diese Arbeit muss auch in qualifizierten Händen liegen, um das eigentliche Ziel – die Inklusion und das Empowerment von Menschen, die heute außerhalb unserer Gesellschaft stehen – auch zu erreichen.
* Als „funktionale Analphabeten“ werden Menschen bezeichnet, die nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben können. Damit ist auch ihre Teilhabe am sozialen Leben stark eingeschränkt.