Herr Wiarda, hatten Sie ein schönes Stadtfest mit Kirchenweihe?
Tileman Wiarda: Ja, es war ein schönes Fest. Obwohl einige mit Bauchgrimmen hin sind und einen Eklat befürchteten.
Weil es im Vorfeld Boykott- Drohungen vonseiten Ihrer Gemeinde gab wegen Stänkereien des AfD-nahen Bürgermeisters Arne Raue gegen die Kirche?
Von einem Boykott war nie die Rede, aber es gibt in Jüterbog schon klare Fronten. Das eine Lager sympathisiert mit dem Bürgermeister, der sich unter anderem kirchen- und fremdenfeindlich äußert. Das andere engagiert sich für Demokratie und in der Geflüchtetenhilfe. Hier ist es schon seit Jahren schwierig, seit 2015. Dann hat die „Märkische Allgemeine Zeitung“ durch ihren Titel einen falschen Zungenschlag in die Diskussion gebracht. Ohne das Wort „Boykott“ wäre alles einfacher gewesen.
Was war denn eigentlich los?
Der Bürgermeister teilt auf seiner Facebookseite sehr gern heftig aus gegen alles, was ihm nicht passt. Das geschah auch, als im Februar die Bischöfe der beiden großen Kirchen die AfD für, aus christlicher Sicht, unwählbar erklärten. Bischof Christian Stäblein hatte uns daraufhin Anfang März mitgeteilt, dass er mit diesem Bürgermeister nicht auf ein gemeinsames Foto will.
Er wollte im Rahmen des Stadtfestes dem kirchenfeindlichen Bürgermeister nicht die Replik der Stadtrechtsurkunde übergeben …
… obwohl das ursprünglich geplant war. Aber der Bischof kam zum Gottesdienst und hat gut gepredigt. Mehr war nicht, von einem Boykott steht auch nichts in unserem öffentlichen Brief.
Sie haben einen offenen Brief an die Stadtverordneten geschrieben – warum?
Nicht nur ich, die Gemeindekirchenräte von St. Nikolai Jüterbog und Kloster Zinna waren das. Darin steht auch, dass wir nach wie vor am Gespräch mit Bürgermeister Arne Raue interessiert sind. Eine öffentliche Diskussion wäre gut zum Thema „Die Rolle der Kirche in der heutigen Gesellschaft und die Verantwortung von kommunalen Politikerinnen und Politikern für die Erhaltung der Demokratie“. Ich stehe zur Verfügung, doch bis jetzt hat er sich noch nicht gemeldet.
Jüterbog gilt politisch als sehr weit rechts stehend. Arne Raue machte schon 2017 bundesweit Schlagzeilen mit flüchtlingsfeindlichen Äußerungen.
Die Brandenburger AfD hat hier schon dreimal Parteitage abgehalten in der großen Stadthalle, wie man hört zu sehr günstigen Bedingungen und ohne Einverständnis der Stadtverordnetenversammlung. Anfang April hat Raue dort ein Grußwort gesprochen. Gegen diese starke Präsenz der AfD wollten wir etwas setzen, ein Fest für die Demokratie. Ein gemeinsames Fest mit den Falken, der Jugendorganisation der Partei der Linken und Antifa kam nicht zustande, weil wir als Kirchengemeinde keine Parolen und Fahnen wollten. So entschieden wir uns für ein Doppelfest. Die Parteien haben auf dem Marktplatz gefeiert und wir im Kirchhof. Daraufhin verspottete der Bürgermeister uns auf Facebook, verhöhnte auch unseren offenen Brief und ließ Kommentare wie „Faschistenfeier unter dem Regenbogen Gottes“ unwidersprochen. Er will ja nun auch in den Landtag, kämpft gegen Erik Stohn von der SPD um ein Direktmandat. Und die AfD hat keinen Kandidaten aufgestellt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Es klingt, als sei Jüterbog gespalten.
Es gab diesen Brandanschlag auf die Turmstube, und es gibt „Gemeinsam für Jüterbog“, die Geflüchteteninitiative von Pfarrerin im Ruhestand Mechthild Falk, meiner Vorgängerin. Nach dem Anschlag kam viel Prominenz, nur der Bürgermeister nicht. Die Kirchengemeinde hat damals die Aussichtsplattform St. Nikolai geschlossen, um ein Zeichen zu setzen. Danach hat es sich ein wenig beruhigt – bis jetzt. Rechtsextreme Einstellungen werden viel offener geäußert als vorher. Ich nehme eine Verrohung der Sprache wahr.
Hat die Ausfälligkeit des Bürgermeisters gegenüber der Kirche mit deren Engagement für Geflüchtete zu tun?
Auch. Und wie mir scheint, mit dem Engagement von Kirche allgemein für Menschenrechte, Menschenwürde und Demokratie. Die großen Kirchen haben sich deutlicher positioniert gegen die AfD, da fühlte er sich von der Kirche insgesamt angriffen und überträgt das auf die Kirchengemeinde vor Ort.
Haben Sie sich mittlerweile irgendwie verständigt?
Wir haben uns am Rande des Jubiläums getroffen, haben uns höflich die Hand gegeben, unsere Kinder sind Klassenkameraden und befreundet. Aber natürlich ist es schwer, das Zwischenmenschliche vom Politischen zu trennen. Immerhin geht es um menschenfeindliche Positionen, um antidemokratische Hetze.
Sie versuchen, Mensch und Meinung zu unterscheiden?
Wenn das nur ginge! Zumal er selbst nicht trennt. Er sagt zwar, er äußert sich als Privatperson, aber er ist nun mal Bürgermeister und wird als solcher gesehen. Er spricht nicht als Privatperson ein Grußwort auf dem AfD-Parteitag. Er kandidiert nicht als Privatperson quasi auf dem AfD-Ticket für den Landtag.
Aber Sie zeigen ihm keine kalte Schulter?
Politisch schon, menschlich nicht. Wir wollen den Kontakt nicht abbrechen, wir leben in einer überschaubaren Stadt, man kennt sich, wünscht sich einen Guten Tag. Ich versuche, ihm mit Offenheit und Achtung zu begegnen, und er tut das mir gegenüber mir auch. Dazu gehört für mich aber auch, klar aufzuzeigen, wo die Grenzen der Toleranz sind.
Was empfehlen Sie für den Umgang mit AfD-Politikern und mit AfD-nahen Gemeindegliedern?
Da muss man genau unterscheiden. Die Landessynode hat beschlossen, dass AfD-Anhänger, die öffentlich AfD-Positionen vertreten, keine kirchlichen Ämter haben dürfen. Aber im Kirchenchor ist jeder willkommen, natürlich auch im Gottesdienst. Anders als die AfD schließen wir niemanden aus. Das wäre falsch, wir müssen im Gespräch bleiben, wir müssen diskutieren! Nur Teilhabe extremistischer Kreise an kirchenleitendem Handeln oder im Verkündigungsdienst, da gibt es eine Grenze, das geht eben nicht.
Was halten Sie von der landeskirchlichen Initiative „zusammen.streiten“, die Gemeinden ermutigt, im Vorfeld der Wahlen Räume fürs Gespräch zu öffnen?
Das ist genau das, wo wir hinwollen! Wir haben in der Endphase der Coronapandemie schon einmal ein offenes Gespräch angeboten, das war spannend, offen und konfrontativ. Das wollen wir fortsetzen, gern auch mit der ganz rechten Gruppe vom „Jüterboger Bürgerstammtisch“. Ich warte nach wie vor auf eine Einladung dorthin zu einem Vortrag über Demokratie und Menschenrechte. Ich habe ein ausreichend breites Kreuz, mich dem zu stellen, auch wenn sie mich beschimpfen. Ich höre mir an, was sie zu sagen haben und äußere mich dazu, ziehe aber auch rote Linien. Lasst uns sprechen!
Warum, meinen Sie, sind Arne Raue und andere so begeistert von AfD-Positionen?
Die Menschen haben ja aus ihrer Sicht nachvollziehbare Gründe, die AfD zu wählen, das muss ich ernst nehmen. Da sind Ängste, wirtschaftliche Fragen, da ist die Sorge, dass sich unser Land durch Migration zu sehr verändert. Diese Sorgen muss ich nicht gut finden, aber als Christenmensch bin ich verpflichtet, sie zu hören und zu achten. Ich muss offen sein für Diskussionen und die Meinung des anderen würdigen, solange sie im demokratischen Rahmen bleibt. Es bringt nichts, immer gleich mit der „Nazi-Keule“ zu kommen, wir müssen doch streiten! Wir müssen dafür sorgen, dass Leute sich wieder mehr wahrgenommen und gehört fühlen, und da kann die Kirche helfen.
Was braucht Jüterbog, damit es nicht noch weiter nach rechts driftet?
Echte bürgerliche Repräsentanz. Die AfD, das sind ja keine Bürgerlichen, das sind Populisten. Was hier fehlt, ist eine klare bürgerliche Gruppe oder Partei. Jüterbog war immer eine bürgerliche Stadt, aber seitdem die FDP in der Versenkung verschwunden ist, gibt es eine Leerstelle. Die CDU ist hier vielen zu unklar von ihrer Ausrichtung her. Jüterbog bräuchte einen wie Helmut Kohl, etwas rechts von der Merkel-CDU. Denn Jüterbog ist kein braunes Loch, es ist eine zutiefst unglückliche bürgerliche Stadt, viele Menschen, das ist mein Eindruck, fühlen sich nicht repräsentiert. Wir haben viele sehr Linke, aber auch viele sehr bürgerlich geprägte Menschen hier. Wir als Kirche können das gut integrieren.
Wir können einen Beitrag für eine gute Streitkultur leisten.
Zur Person: Tileman Wiarda, 1975 in Osnabrück geboren, aufgewachsen in Westberlin, Pfarrer in Jüterbog seit 2019, vorher in Potsdam und Motzen bei Mittenwalde, ist volkskirchlich geprägt. Er sagt: „Kirche hat eine Stimme. Sich nicht kleinmachen, damit sollten wir auch in Minderheitenposition nicht aufhören und klar
sagen, wofür wir stehen.“