Der Zweite Weltkrieg war erst zwei Jahre zuvor zu Ende gegangen. Halb Europa lag in Schutt und Asche. Die Bombardements hatten ein Millionenheer Obdachloser hinterlassen. Über zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemals deutschen Ostgebieten suchten eine neue Lebensgrundlage.
Trotzdem schienen viele Menschen aus der NS-Zeit nichts gelernt zu haben. Das jedenfalls beobachtete der Göttinger Theologe Hans-Joachim Iwand. Am 5. Juli 1947 wies er in der Sitzung des Bruderrates, des nach Kriegsende fortbestehenden Leitungsorgans der Bekennenden Kirche, in Darmstadt auf zwei Gefahren hin. Erstens: Die Kirche werde zum Rückzugsgebiet des verdrängten Nationalismus. Zweitens: Die Politik der Besatzungsmächte führe zur Spaltung Deutschlands. Deshalb forderte er ein politisches Wort zur gegenwärtigen Situation – und wurde gebeten, einen Entwurf zu schreiben.
Nationalistische Parolen leben weiter
Am 6. Juli legte Iwand acht Thesen vor. These 1: Das Wort von der Versöhnung hat eine politische Dimension. Die Thesen zwei bis vier beginnen mit der Formel „Wir sind in die Irre gegangen“: durch die Kontinuität des nationalkonservativen Denkens seit dem 19. Jahrhundert, durch das Bündnis der Kirche mit den Konservativen, durch die Überhöhung der eigenen weltanschaulichen Position.
Die fünfte These war der Dreh- und Angelpunkt: „Noch immer werden nationalistische und politische Parolen, die den Ausgangspunkt für die Katastrophe von 1933 bildeten, weiter gepflegt.“ Die sechste These nimmt die erste auf, und die siebte These fordert: „Nicht Rückkehr zum Christentum, sondern Umkehr zu Gott durch das Evangelium.“ In der achten These heißt es: „Wir sehen mit Sorge, dass uns bis heute die rettende und befreiende Umkehr unseres Volkes … nicht geschenkt ist.“ Obwohl der reformierte Theologe Karl Barth Iwands Entwurf als die „prophetische Stimme der Kirche“ bezeichnete, einigte man sich, den Entwurf möglichst einfacher zu formulieren.
Als der Bruderrat am 7./8. August 1947 erneut nach Darmstadt kam, hatten Martin Niemöller, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Karl Barth und die „Kirchlich-theologische Arbeitsgemeinschaft“ Iwands Entwurf überarbeitet.
Barth griff sehr stark in den Text ein und formulierte: „Wir sind in die Irre gegangen, indem wir es übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre ein von der Kirche weithin vergessenes wichtiges Element biblischer Wahrheit (die Auferstehung des Fleisches) neu ans Licht gestellt hat, indem wir ihm ein unbiblisch spiritualistisches Christentum gegenüberstellten …“
Am 8. August 1947 war die Endfassung des Darmstädter Wortes fertig. Mit Barths Formel „Indem wir das erkennen und bekennen“ wurde aus Iwands Wort zur politischen Existenz des Christen in der Gegenwart ein zweites Schuldbekenntnis, das die Stuttgarter Erklärung vom 19. Oktober 1945 präzisierte. Der Bruderrat der EKD gab die Schlussfassung am 8. August 1947 als seine verbindliche Position heraus. Wie im Stuttgarter Schuldbekenntnis wurde allerdings auch im Darmstädter Wort eine Mitschuld an der Ermordung der Juden verschwiegen.
Von Anfang an war die Erklärung vom August 1947 umstritten. Besonders von konservativen Christen gab es Kritik, weil sie die Kontinuität der deutschen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert betonte und nicht die Jahre 1933 bis 1945 isolierte. Und weil sie als selbstverständlich geltende ethisch-politische Traditionen in Frage stellte.
Der lutherische Theologe Hans Asmussen lehnte den „Sozialismus-Beschluss“ ab und für den Pfarrer und späteren Theologieprofessor Walter Künneth handelte es sich um „Konjunktur-Theologie“. Dagegen begrüßten 150 jüngere Theologen der Bekennenden Kirche, die zur „Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft“ gehörten, das Wort.
Zu den Trägern des Darmstädter Wortes gehörten in den 1950er Jahren die Kirchlichen Bruderschaften, die die deutsche Wiederbewaffnung ablehnten und für Kriegsdienstverweigerung eintraten. Auch die Ostermarschbewegung und die Aktion Sühnezeichen gehörten seit Ende der fünfziger Jahre zu den Befürwortern des Darmstädter Wortes.
Wegbereitung für die Ostdenkschrift der EKD
Frühe Kritiker des Darmstädter Wortes wie Günter Jacob, Generalsuperintendent der Neumark und der Niederlausitz, und Propst Kurt Scharf wurden in den 1950er und 1960er Jahren zu Befürwortern. Die Kirchlichen Bruderschaften gehörten zu den Wegbereitern der Ostdenkschrift der EKD von 1965, die sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und der DDR einsetzte.
Zum 20. Jubiläum 1967 schrieb Günter Jacob, die Kirche haben „allen Anlass“, sich auf „dieses Wort von Darmstadt neu zu besinnen“. Während die EKD das Darmstädter Wort als nicht zu ihrer Tradition gehörend ablehnte, zählte es 1970 zu den Gründungsdokumenten des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, auf das man sich immer wieder berief.