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Im Judentum hat das Warten eine besondere Bedeutung

Die Adventszeit ist Wartezeit. Juden warten auf die Ankunft des Messias und hoffen auf eine zukünftige Welt. Doch warten sie deshalb anders? Rabbiner Nils Ederberg über das Warten im Judentum.

wartende Frau mit Koffer und einer israelischen Fahne
wartende Frau mit Koffer und einer israelischen FahneIMAGO / Pacific Press Agency

Warten ist eine allgemein menschliche Tätigkeit. Da unterscheiden sich Jüdinnen und Juden nicht von anderen. Wir warten voller Vorfreude oder mit Bangen. Wir füllen die Zeit des Wartens mit Aktivitäten oder wir warten ganz passiv, was passieren wird. Wir warten auf die Sommerferien, den ersten Job, die Geburt der Kinder und schließlich auf die Rente.

Warten zwischen Essen von Fleisch und Milchprodukten

Es gibt auch ein Warten, das für uns Juden spezifisch ist. Nachdem wir Fleisch gegessen haben, warten wir zwischen einer und sechs Stunden, bevor wir Milchprodukte essen. Das ist für die meisten Nichtjuden wohl eher überraschend, aber wird von uns aus Exodus 23,19 abgeleitet: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen.“ Ein Warten auf die richtige Zeit ist mit allen zeitgebundenen Geboten verbunden. Das Morgengebet beginnt frühestens mit der Dämmerung und im Winter kann das ziemlich spät sein. Schabbat endet erst, wenn am Samstagabend drei Sterne zu sehen sind.

Teller mit vegetarischem Hummus
Teller mit vegetarischem HummusIMAGO / Zoonar

Das Volk Israel hat in der Wüste auf Moses gewartet. Er war auf den Berg Sinai gestiegen, um von Gott die Tora zu empfangen. 40 Tage waren dem zurückgelassenen Volk aber zu lang. Als man dachte, dass Moses nicht wiederkommen würde, machte man ein Goldenes Kalb und betete es an.
Hier haben wir ein gescheitertes Warten, das auf den ersten Blick ganz katastrophale Folgen hatte, denn Gott wollte nun das Volk vernichten. Dann aber beruhigt sich Gott, verzeiht dem Volk und bestätigt seinen Bund mit Israel. So war es auch schon beim Bund mit der ganzen Menschheit gewesen, nachdem Noah und seine Familie die Sintflut überlebt hatten. Gott akzeptiert, dass die Menschen nicht perfekt sind und schließt trotzdem einen Bund mit ihnen.

Warten im Alten Testament

Auch Ester wartet in der Purimgeschichte, die in vielem eine typische Geschichte der Juden in der Zerstreuung ist. Man lebt als Minderheit und ist von der Mehrheit abhängig. Ester ist ein jüdisches Waisenkind, das zur Hauptfrau des Großkönigs wird. Niemand weiß, dass sie Jüdin ist. Als der böse Haman den König dazu bringt, alle Juden zum Tode zu verurteilen, wartet Ester ab. Erst als ihr klar wird, dass auch ihr Leben auf dem Spiel steht, entscheidet sie sich zu handeln.

Auf das erste passive Warten folgt nun ein aktives Warten, bei dem sie ganz geduldig und langsam einen Schritt auf den anderen folgen lässt. Sie wagt es, gegen die Regeln den König anzusprechen und als er gnädig darauf reagiert, bittet sie ihn mehrfach, zu einem Festmahl zu ihr zu kommen. Dabei überzeugt sie den König, dass Haman böse ist, und rettet so nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben aller anderen Juden.

Warten auf den Messias

Wie ist es nun mit dem Warten auf den Messias? Jesus von Nazareth wird es nicht sein, so viel ist für das Judentum klar. Die eigentlich wichtige Frage ist auch nicht die Person des Messias, sondern ob wir aktiv oder passiv auf die messianische Zeit warten. Die Kriege gegen die Römer hatten zu Tod und Elend vieler Menschen, zur Zerstörung Jerusalems und zur Vertreibung der Juden aus dem Land Israel geführt. Daher hoffen wir auf die zukünftige Welt und bitten Gott jeden Tag darum, dass sie schnell und in unseren Tagen kommen möge. Aber wir versuchen nicht, das Gottesreich auf Erden zu erzwingen.

Warten und Handeln seit dem Angriff der Hamas

Seit dem 7. Oktober warten wir auf das Schicksal der beim Terrorattentat verschleppten Menschen. Ob sie freikommen oder ob sie schon ermordet sind. Wir warten, aber wir handeln auch. Sei es als Soldatinnen und Soldaten in Israel, die versuchen, die Mörder aus ihren Verstecken mitten unter der Zivilbevölkerung zu holen und die Geiseln zu befreien. Sei es als Zivilisten, die sich um die Opfer und um die Hinterbliebenen kümmern. Sei es als Juden in der ganzen Welt, die sich dafür einsetzen, dass die schrecklichen Bilder des Leidens auch der Palästinenser nicht dazu führen, dass die Mörder den Sieg davontragen und sich auf neue Untaten vorbereiten können.

Wer jetzt denkt, dass dies nicht sehr weihnachtlich klingt, hat Recht, sollte sich aber daran erinnern, dass im Umfeld der Weihnachtsgeschichte auch der Kindermord in Bethlehem stattgefunden hat.

Rabbiner Nils Jakob Ederberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam und 2. stellvertretender Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz