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Höhere Zäune helfen nicht

Kofi Annan mahnt Deutschland, „den Weg der Menschlichkeit weiterzugehen“. Flüchtlingspolitik und Friedensethik waren zentrale Themen des Stuttgarter Kirchentags

Kathrin Erbe

Stuttgart – Mit Aufrufen zur Lösung globaler Konflikte ist am vergangenen Sonntag der evangelische Kirchentag in Stuttgart zu Ende gegangen.
„Trauen wir Gott mehr zu als ein bisschen Sozialromantik: einen Frieden, der die Welt umfasst“, sagte die Hildesheimer Pastorin Nora Steen im Schlussgottesdienst vor rund 95 000 Gläubigen auf dem Cannstatter Wasen. Für jeden Menschen auf der Erde gebe es einen Platz und eine Aufgabe. „Niemand ist dazu geboren, auf der Flucht zu sein“, sagte die Theologin. Frieden müsse im Kleinen beginnen. Jeder stehe an seinem Ort und mit seinen Möglichkeiten in der Verantwortung. Eine Resolution, die beim Kirchentag verabschiedet wurde, dringt auf eine umfassende Seenotrettung im Mittelmeer und legale Wege nach Europa.

Nora Steen: Jeder steht in der Verantwortung

Die Diskussion um Friedens-ethik und Flüchtlinge hatte neben Fragen einer gerechten Weltwirtschaft und Klimapolitik zu den zentralen politischen Themen des fünftägigen Protestantentreffens gehört, bei dem rund 97 000 Dauerteilnehmer gezählt wurden.
Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan forderte in Stuttgart eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Das Zuwanderungsproblem könne nicht einfach mit höheren Zäunen oder einer Politik der Abschottung gelöst werden. Migration könne nicht gestoppt werden. Deutschland sei in dieser Frage vergleichsweise offen und habe viele Migranten aufgenommen, die vor Gewalt und Armut geflohen seien: „Ich bitte Sie dringend, diesen Weg der Menschlichkeit weiterzugehen“, sagte Annan.
Über die ethische Berechtigung militärischer Interventionen in Krisengebieten wurde kontrovers diskutiert. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm sagte, Gealt bringe „nie eine Lösung“, sei aber manchmal nötig, um die Vernichtung von Menschen zu verhindern. Annan betonte dazu, in Afghanistan, dem Irak und Libyen seien die Grenzen militärischen Eingreifens aufgezeigt worden. Manchmal sei der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt. Doch sei es viel besser, Konflikte anzugehen, bevor sie zu bewaffneten Auseinandersetzungen eskalierten.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warb für eine aktive Rolle Deutschlands bei der Bewältigung internationaler Konflikte. „Wegschauen, Nichtstun, Heraushalten scheint manchmal eine verlockende Alternative für viele." Aber das dürfe sie auch aus christlichen Überzeugungen nicht sein.

Einladung nach Berlin und Wittenberg

Der Tübinger Konfliktforscher Markus Weingardt sprach sich indes klar gegen bewaffnete Interventionen aus. Es gebe keinen Konflikt, in dem alle Mittel der zivilen Krisenbewältigung eingesetzt worden wären, kritisierte er in Stuttgart. In der Innenstadt demonstrierten Friedensaktivisten mit einer Menschenkette für den Abzug von Atomwaffen aus Europa und für die Schließung zweier US-amerikanischer Kommandozentralen.
Zum Abschluss des Gottesdienstes am Sonntag wurden die Gläubigen zum Katholikentag 2016 nach Leipzig und zum nächsten evangelischen Kirchentag in zwei Jahren in Berlin und Wittenberg eingeladen. Das Protestantentreffen vom 24. bis 28. Mai 2017 wird eng verknüpft sein mit den Feiern zum 500. Reformationsjubiläum, die an die Veröffentlichung der 95 kirchenkritischen Thesen durch den Reformator Martin Luther im Jahr 1517 erinnern. Der Berliner Bischof Markus Dröge versprach, in der Hauptstadt werde der Kirchentag auf eine kritische Öffentlichkeit, die „Berliner Schnauze“ und kulturelle Vielfalt treffen.