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Historiker: Vorsicht im Umgang mit Zeitzeugenberichten

Bei der Bewertung des „Massakers“ durch Sowjetsoldaten an Zivilisten in Nemmersdorf in Ostpreußen vor 80 Jahren muss nach Ansicht des Historikers John Zimmermann Vorsicht walten. Die Vorgänge seien bis heute nicht eindeutig geklärt, sagte der Leiter des Fachbereichs Militärgeschichte bis 1945 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Historische Dokumente gibt es so gut wie keine. Daher wissen wir noch immer viel zu wenig, was dort am 21. Oktober 1944 tatsächlich passiert ist.“ Die Auswertung von Zeitzeugenberichten sei als methodischer Zugang problematisch: „Es ist noch immer schwer zu sagen, wo die historische Wahrheit liegt.“ Es sei nicht einmal bekannt, wie hoch die Zahl der Toten genau war, vermutlich zwischen 19 und 30.

Möglich sei jedoch, dass es in russischen Archiven noch aufschlussreiche Dokumente gebe, die aber derzeit nicht erreichbar seien. „Zudem sind die Kriegsverbrechen der Roten Armee von Seiten der DDR nie untersucht worden. Deshalb existieren auch keine Gerichtsprozesse mit Akten, die man auswerten könnte“, erklärte der Fachmann.

Zwar gebe es mehrere Publikationen zu den Vorgängen in Nemmersdorf, die sich aber fast nur auf Augenzeugen stützten. „Oft entstanden die aber erst Jahre nach den Geschehnissen, aus der verblassenden Erinnerung, die womöglich nicht frei ist von der reißerischen NS-Berichterstattung. Dieser methodische Zugang ist problematisch“, betonte Zimmermann.

NS-Propagandaminister Joseph Goebbels habe die Toten zu propagandistischen Zwecken instrumentalisiert: „Dazu wurden die Leichen, die schon in einem Massengrab beerdigt waren, wieder ausgegraben. Und für die Fotos wurden den Frauen die Röcke hoch und die Unterwäsche heruntergezogen, um Sexualdelikte zu unterstellen.“ Auch deshalb seien unmittelbar danach ausländische Journalisten nach Nemmersdorf gelassen worden, um aller Welt die grausamen Taten der Roten Armee vermeintlich authentisch vorzuführen. Das Echo in den Medien sei gewaltig gewesen. Und der Bevölkerung sei klargeworden: „Der Krieg kehrte dorthin zurück, von wo aus er 1939 entfesselt worden war.“