Briefe, Gedichte, Romane und wissenschaftliche Abhandlungen: Goethe hat unglaublich viele Schriften hinterlassen. Seit 1946 sind Germanisten dabei, seinen Wortschatz zu heben. Das Projekt ist auf der Zielgeraden.
Er gilt noch vor Martin Luther als der wortmächtigste Deutsche. Während der aktive Wortschatz der Bundesbürger im Durchschnitt rund 4.000 Worte beträgt und der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Darstellung von Spöttern mit übersichtlichen 1.000 Worten ausgekommen sein soll, war der Sprachkosmos von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) unendlich viel weiter.
Wie groß, das ergründet seit Jahrzehnten das Goethe-Wörterbuch. Gleich drei wissenschaftliche Institutionen tragen das Projekt: die Berlin-Brandenburgische, die Göttinger und die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Seit 1946 schon sind die Germanisten dabei, Goethes Sprache in einem Lexikon zu erfassen – und damit die Weltsicht des wohl weltweit bekanntesten deutschen Dichters. Ein Mammutprojekt, das erst langsam in die Zielrunde einbiegt. 2024 sollen die ersten beiden Lieferungen des 8. Bandes erscheinen, wie die Kommissarische Arbeitsstellenleiterin Elke Dreisbach auf Anfrage in Hamburg mitteilte. Sie erreichen das Stichwort “Spiegelzimmer”. Das Goethe-Wörterbuch online reicht aktuell bis zum Stichwort “Scheibenstück”. Abgeschlossen sein soll das Gesamt-Projekt laut Dreisbach 2029.
Rund 93.000 unterschiedliche Wörter haben die Wissenschaftler in Goethes Werk identifiziert. Ein Archiv von rund 3,4 Millionen Textbelegen ist – anfangs mühsam auf Karteikarten verzettelt – entstanden. Sie entstammen nicht nur Goethes Gedichten, Dramen und Romanen, sondern auch zahllosen Briefen, Tagebüchern, naturwissenschaftlichen Abhandlungen und amtlichen Schriften. Schließlich hat sich der am 28. August vor 275 Jahren in Frankfurt geborene Dichter und spätere Weimarer Minister auch mit Anatomie, Botanik und Chemie, Geologie, Mineralogie und Optik, aber auch mit Verwaltungswissenschaft und Zivilrecht befasst.
Für Christoph Markschies, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ist das Gelingen des Goethe-Wörterbuchs ein “Wunder der Wissenschaftsgeschichte”. Entstanden 1946 auf Initiative des Goethe-Forschers Wolfgang Schadewaldt, war es als Projekt der geistig-moralischen Erneuerung Deutschlands nach der Nazi-Barbarei angelegt. Die Wissenschaftler, die zunächst in Berlin, Hamburg, Leipzig und Heidelberg die Arbeit aufnahmen, mussten schon bald mit den Auswirkungen der Teilung Deutschlands kämpfen.
Trotz Mauer und Kaltem Krieg: Mitte der 60er Jahre war die Materialsammlung im Wesentlichen abgeschlossen. 1965 begann die eigentliche Arbeit an den Artikeln des Lexikons. Die erste Lieferung zum ersten Band erschien 1966. 2004 begannen die Digitalisierung der ersten Bände und ihre Publikation im Internet.
Warum der Aufwand? Markschies verweist darauf, dass die Sprache Goethes in hohem Maße die allgemeine Zeitsprache des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wiedergibt. Schließlich hätten Goethe, Friedrich Schiller und der Schriftsteller Christoph Martin Wieland damals in Weimar die Grundlagen für die moderne deutsche Sprache gelegt, wie Petra Lutz von der Klassik Stiftung Weimar berichtet. Tausende neue deutsche Wörter seien damals entstanden – entweder durch poetische Erfindungslust oder durch Übernahmen aus ausländischen Werken wie bei Wielands Shakespeare-Übersetzung.
Über Wörter wie “Blitzlicht” oder “liebehimmelswonnewarm” gibt das Wörterbuch deshalb ebenso Auskunft wie über “Mohr” oder “impfen”. Oft lässt sich dabei auch erkennen, wie sich das Wortverständnis seit der Goethe-Zeit verändert hat: Selbst Goethe zahlte häufiger Schmiergeld – allerdings, weil die Räder seiner Kutsche gefettet werden mussten. Erst nach und nach siedelte sich das Wort dann auch im Wortfeld Korruption an.
Wichtig für das Verständnis von Goethe und seiner Weltsicht sind auch die Überblicke: So verwendete der Dichter, der nicht an den christlichen Erlöser-Gott glaubte, rund 3.100 mal den Begriff Gott. Etwa 1.800 Erwähnungen betreffen die christliche Religion, der Rest meist die klassische Antike. Mit gleicher Gründlichkeit werden auch Dutzende von Wortkombinationen aufgeführt, in denen Gott vorkommt: Von “Göttergabe” über “gottvergessen” bis hin zu “Götzendienst”.