Es ist ein verrücktes Vorhaben: Der Künstler Daniel Beerstecher will ein Jahr lang schweigend durch Deutschland wandern – quasi “in der Muttersprache Gottes”. Und zuhören, welche Geschichten ihm Menschen anvertrauen.
Wenn man ein Jahr schweigend durch Deutschland wandern will – welche letzten Worte würde man dann sprechen und zu wem? Der Stuttgarter Performance-Künstler Daniel Beerstecher startet jetzt zu einer einjährigen Schweigewanderung quer durch Deutschland. Sein Ziel: sich “ganz der Kraft des Zuhörens widmen”.
Zum Start sprach er in einem Künstlergespräch mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in der katholischen Kirche Sankt Maria in Stuttgart seine “letzten Worte – für ein ganzes Jahr”. Dabei richtete der 45-Jährige seine finalen Sätze an seine Ehefrau. Er dankte ihr für ihre Liebe, ihren Mut und ihre Unterstützung und schloss mit den Worten: “Danke, dass Du in meinem Leben bist.”
Noch bis diesen Donnerstag um 19.00 wollte Beerstecher um die Stuttgarter Kirche herum präsent sein, bevor er weiterwandert – “ganz still, doch voll zugewandt”. Menschen, die ihm dort begegnen, seien “eingeladen zu sprechen: über das, was sie bewegt, was gesagt werden will”, hatte die katholische Kirche in Stuttgart vorab mitgeteilt.
So sitzt er da, fast unbemerkt, unter einem großen Baum auf dem Platz vor der Kirche, auf einem Holzstuhl, vor ihm ein kleiner runder Holztisch mit einer Plastikflasche Wasser und Gläsern. Davor: ein weiterer – leerer – Holzstuhl. Nimmt man Platz, kann man das Ansteckschild an seinem Hemd lesen: “Ich bin für ein Jahr im Schweigen. Aber ich höre Dir gerne zu.”
Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) trifft ihn dort zu Beginn seiner Wanderung – es wird eine Art Interview mit einem Schweigenden. Beerstecher beantwortet Fragen, indem er nickt, lächelt, den Kopf schüttelt oder kurze Antworten auf einen Zettel schreibt. Etwa auf die Frage, ob solch ein Vorhaben, ein Jahr lang kein Wort zu sprechen, nicht ziemlich verrückt sei?
“Es war von Anfang an verrückt”, schreibt er. “Deshalb weiß ich auch, worauf ich mich eingelassen habe.” Und er fügt lächelnd mit Blick auf die ungewöhnliche Gesprächssituation hinzu: “Ein Interview mit einem Schweigenden – eigentlich auch eine verrückte Sache!”
Hier auf dem Platz vor der Kirche Sankt Maria gebe es “so unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschichten”, berichtet der Künstler von drei Begegnungen allein am Dienstag. Tatsächlich wird man nach einigen Minuten des “Gesprächs” mit dem Schweigenden selbst sensibler für das, was um einen herum geschieht: Da ist der Wind, der die Blätter des Baumes rascheln lässt, da sitzt ein Paar, das sich zugewandt im Schatten auf einer Bank unterhält, aber auch ein Mann, der in einem roten kurzen Kleid vorbeiläuft – und grüßt. Und da ist eine Frau mit Sonnenhut, die mit einem laut gestellten Handy telefoniert.
In den vergangenen Jahren kam Beerstecher die Welt nach eigenen Angaben immer verrückter und lauter vor. “Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Zeit leben, in der die Polarisierung immer mehr zunimmt. Mir geht es darum, dieser Entwicklung als Kontrast die Stille entgegenzustellen.”
Nach dem jetzigen Projekt “Ich höre zu – Ein Jahr im Schweigen”, bei dem er bei Gastgebenden oder in der freien Natur übernachte und mit leichtem Gepäck lebe, werde er im Sommer 2026 nach Sankt Maria zurückkehren, “um dort sein Schweigen zu brechen – und von seiner Reise zu erzählen”, so die Kirchengemeinde. Neben Installationen, Collagen und Videos hat der 1979 in Schwäbisch Hall geborene Künstler in den vergangenen Jahren mehrere “Fortbewegungsprojekte” realisiert. So fuhr er etwa mit einem Segelboot auf Rädern durch Patagonien.
Bei seiner jetzigen einjährigen Schweigewanderung bis Lübeck und Greifswald im Norden sowie Freiburg und Konstanz im Süden will Beerstecher für die Kommunikation Zettel mitnehmen – aus denen später eine Kunstinstallation werden könnte – oder auch ein Buch. Zudem wird er von dem in Stuttgart lebenden Filmemacher Alvaro García begleitet. Am Gehen fasziniere ihn die Entschleunigung, sagte Beerstecher vor Reiseantritt der “Stuttgarter Zeitung”. “Die Sehnsucht, Ruhe im Kopf zu kriegen, erfüllt sich im Gehen.” Beerstecher ist überzeugt: “Wenn einer schweigt, kann die Verbindung viel tiefer werden als mit den üblichen Einwürfen und Bewertungen.”
Wer dies selbst erlebt, spürt, dass da etwas dran sein könnte. Am Ende ist einem der schweigende Gesprächspartner genauso vertraut, wie wenn er gesprochen hätte. Man würde nur gerne noch seine Stimme hören. Doch da befindet er sich in guter Gesellschaft. Ein Ordensmann im Kloster Neustadt, wo Beerstecher Station machen will, habe ihm gesagt: “Sie sind nun ein Jahr in der Muttersprache Gottes unterwegs.”