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Garten Niemandsland in Berlin: Gegenentwurf zum Krieg in der Ukraine

Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Heute kommen auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße Menschen aus 16 Nationen zusammen. Sie haben ihn in eine Oase verwandelt.

Garten Niemandsland an der Bernauer Straße
Garten Niemandsland an der Bernauer StraßeHans-Jürgen Röder

Songjie Lui jätet in der Nachmittagssonne ihr Beet. Schwarzkohl, Zucchini, Tomaten und sogar Gurken aus ihrer Heimat hat die gebürtige ChiOKnesin darauf gepflanzt. Es wird herbstlich kühl und doch grünt und blüht es ringsum: leuchtend blaue Astern neben weißen Margariten und gelben Sonnenblumen. Stühle laden zum Verweilen ein, Ruhe spendet Kraft. Ein geheimnisvoller Zauber geht von all dem aus. Doch Achtung. Das hier ist kein gewöhnlicher Garten.

Blumen statt Minenfelder

Es ist einer dieser Orte, die immer wieder berühren, weil sie so seltsam nah und doch so fern sind.  Spätestens die bemalten Mauer­reste, die ihn zum Elisabeth-Friedhof hin ­begrenzen, künden davon: Dieser Garten in Berlin-Wedding ­befindet sich auf dem ehemaligen Todesstreifen. Nur wenige Schritte hinter der Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße. Die historischen Bilder vom 9. November, als die Mauer fiel, hielten die Welt in Atem. Wo einst geschossen wurde, Minenfelder und Wachhunde Leben auslöschten, haben diesen Garten mehr als 55 Menschen aus 16 Nationen angelegt, ihn gemeinsam zum ­Blühen gebracht.

Songjie Lui hat ihre Arbeit getan. Jetzt sitzt die zierliche Frau in dem modernen schwarzen Kleid auf ­einem der Holzstühle. „Es ist Wahnsinn, hier ein Beet zu haben. Ich bin stolz darauf“, sagt sie. „Die Berliner Mauer berührt die Welt. Ihr Ende ohne Krieg und Blutvergießen.“ Die aus Xi’an stammende Mikrobiologin, die zunächst in China Landwirtschaft studierte und seit 1992 in Deutschland lebt, weiß sehr genau, was das heißt. Sie war auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 dabei, als das Militär die Hoffnung der Menschen auf ein fried­liches Miteinander niederschlug. Genauso denkt sie aber auch an geteilte Länder wie Korea oder Israel und Palästina, wo inzwischen der Krieg tobt. Von diesem Garten hatte sie von einer Nachbarin gehört, war „einfach hergekommen“ und hat sich einen Traum erfüllt.

Die Menschen waren willkommen, egal welche Religion oder Herkunft

„Ein Garten, das ist immer wieder der gleiche große Zauber“, sagt Bernd Schumann, der Obstbauer aus Leidenschaft, der maßgeblich den Plan für alles geliefert hat. Der 59-Jährige mit den grauen kurzen Haaren steht mit dem Fahrradhelm unter dem Arm inmitten der ­Blumen und Bäume. Wache blaue Augen hinter der Brille schauen sein Gegenüber an. „Nein, nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Zauber, das heißt ja nicht, peng und alles ist gut.“ Die Erde war durch die Geschichte hart geworden. Schließlich war der Todessteifen ein Ort, an dem kein Grashalm wachsen durfte. Und nach der Maueröffnung haben ­Besucher des Friedhofes hier allen Schutt abgeladen, der sich in der Zeit der Grenze angesammelt hatte. Als der Garten 2016 angelegt wurde, mussten sie mit großer Mühe die Erde lockern. „Erde, die durch die Geschichte verhärtet ist, braucht Vision und Leidenschaft, um auf ihr wieder Leben möglich zu machen.“

Vor allem brauche es die Überzeugung, „dass sich die Dinge zum Guten ändern können, wenn Menschen nur daran glauben“, sagt der im sächsischen Schönfeld aufgewachsene Bernd Schumann, der heute als Altenpfleger in Berlin-Wedding arbeitet. Diese Erfahrung hat ihn im Jahr 1989, als er bei der Friedlichen Revolution in der DDR mittendrin war, geprägt. Seine Rechnung ging auf. Denn schon bald, nachdem die Idee von dem Garten entstanden war, kamen auch die Menschen. Keiner hatte sie gebeten oder gerufen. Sie standen am Zaun, wollten mitmachen. Der Plan, jeden ein Beet anlegen zu lassen, ging auf. Wer kam, war willkommen. Keiner fragte nach Religion oder Herkunft. „Zugehörigkeit braucht keine Eintrittskarte“, ist er überzeugt. Waren es am Anfang 10 Beete, die sich um den Feigenbaum gruppierten, sind es heute 55. Und für ­alle ist das auch so etwas wie eine Schule der Demokratie: die Erde des Nachbarn zu achten und tolerieren. „Den anderen nebenan aushalten, der möglicherweise ganz anders gärtnert. Oder dessen Sonnenblume gerade dem Mangold auf dem eigenen Beet die Sonne nimmt.“

Gegenentwurf zu den Kriegsfronten heute

Bernd Schumann wandert zwischen den eng beieinanderstehenden großen und kleinen Beeten. „Demokratie ist ein schweres Geschäft.“ Hier wird sie praktiziert auf der ehemaligen Grenze: die ja eben nur überwunden werden konnte, weil es diesen unbändigen Willen nach Freiheit und Toleranz gab. Bernd Schumann, der 1989 als Gemeindepädagoge in Eisenach mit anderen gewaltlos dafür eintrat, ist noch eins wichtig: „Unser Garten ist ein Garten des Friedens. Ein Gegenentwurf gewissermaßen zu den Kriegsfronten dieser Tage, allen voran ­denen in der Ukraine“ Er hält inne, lacht: „Ein Gärtner führt keine ­Kriege.“

Bernd Schumann im garten Niemandsland mit Teilen der ehemaligen Mauer
Bernd Schumann im garten Niemandsland mit Teilen der ehemaligen MauerHansjürgen Röder

Das passt zur großen Mystikerin Hildegard von Bingen. Der Brasilianerin Normisa Pereira da Silva ist sie besonders wichtig. Nicht nur die Heilkräuter, sondern auch ihre ­Lieder haben ja eine so große Kraft, sagt sie. Das musste unbedingt her, in diesen Garten. Schließlich zeugen die Lieder der Benediktinerin von der Schönheit der Natur, vom Grün, das das Leben erhält und immer wieder erneuert. Und so hat die 1960 in Brasilien geborene Musikerin Normisa gleich am Eingang ein Beet angelegt, auf dem unter einer Salbei-Pflanze ein kleines Bild zu ­sehen ist: ein Auszug aus Musik von Hildegard von Bingen mit Noten und Text in alter lateinischer Schrift. Wer großes Glück hat, kann die Flötistin Normisa hier auch mit einem spontan gespielten Stück ­erleben. In der nahegelegenen ­Kapelle der Versöhnung hat sie eine ganze Konzertreihe gegeben. So wollte sie die Verbindung zwischen Garten und Kapelle deutlich machen, die zusammengehören, weil sie beide für Versöhnung stehen.

Gottesdienste unter der großen alten Linde

Die kleine ovale Kapelle wurde an der Stelle errichtet, wo einst die stattliche Versöhnungskirche stand. An einem kalten Januartag 1985 wurde sie hier im Todes­streifen von der SED gesprengt.  Die Bilder der einstürzenden Kirche gingen um die Welt.

Als Normisa nach dem Mauerfall mit ihrem aus Cottbus stammenden Mann nach Berlin zog, brachte er ihr die Geschichte der Teilung noch einmal besonders nahe. Er kannte das alles hier sehr gut, den Friedhof, die unüberwindbare Mauer. „Er sagte mir: Schau, hier war für mich die Welt zu Ende.“  Was für ein Einschnitt im Leben eines jungen Menschen! Dass der Garten unter freiem Himmel heute für viele auch so ­etwas wie eine Kapelle der Versöhnung von Menschen unterschiedlichster Nationen ist, macht Normisa besonders glücklich.

So mancher Gottesdienst hat hier schon stattgefunden. Begegnungen, Feiern im „Festsaal“ unter der ­großen alten Linde am Ende des Gartens. Das alles ist gewachsen, wurde nicht organisiert.

Blumen im Garten Niemandsland auf dem ehemaligen Todestreifen
Blumen im Garten Niemandsland auf dem ehemaligen TodestreifenHansjürgen Röder

Doch die Erinnerung an den Anfang ist noch frisch. Thomas Jeutner, Pfarrer an der ­Versöhnungskirche, wird diesen Moment nie vergessen. Als er sich im Februar vor zehn Jahren um die Pfarrstelle der Versöhnungsgemeinde bewarb, stand er vor dem Zaun, schaute auf den Todessteifen. Brennnesseln und zwei abgestorbene Bäume standen da.

Ein Garten gegen die Demütigungen

Seine Idee: Wenn sie mich nehmen, würde ich anregen, hier einen Garten ent­stehen zu lassen. Eine Brücke zu den Menschen, eine Brücke zu unserer Geschichte. Ein Garten gegen die Demütigungen und Kränkungen in der DDR. Kein durch­gestyltes Areal wie die nahegelegene Mauer-Gedenkstätte sollte es ­werden. Auch das hat Geschichte. „Widerstehen.“  Thomas Jeutner war einer der vielen, die zur Friedlichen Revolution und dem Mauerfall beitrugen.  „Dass ich Bernd Schumann dann für unser Vorhaben gewinnen konnte, war ein Glücksfall“, sagt er. „NiemandsLand“ haben sie den Garten auf 1000 Quadratmetern ­genannt. „Die Schreibweise denkt gestern und heute zusammen: Vom Niemandsland an der Grenze im kalten Krieg zum freien Niemands-Land“, sagt der Pfarrer. Und das ist es wohl auch: das Gefühl der Freiheit, das diesen Garten so zauberhaft macht.