Von Thomas Jeutner
Das Reisen über Grenzen ist wieder möglich. Jetzt im zweiten Sommer der Corona-Zeitrechnung sind Hunderttausende unterwegs in andere Länder. Nicht nur Tourist*innen machen sich auf den Weg. Auch Migrant*innen. Das warme Wetter und die helleren Tage machen das Risiko geringer, auf der Flucht übers Mittelmeer ums Leben zu kommen. Aber die Zahl der über 800 Ertrunkenen, allein in diesem Jahr, verstören mich.
Der Sommer der Migration
Ich arbeite an der Bernauer Straße in Berlin, einem kirchlichen Erinnerungsort der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Hier immer gegenwärtig sind die Fragen der Flucht, von heute und von damals – sie berühren mich beide. Vor 60 Jahren gab es bei uns schon einmal einen „Sommer der Migration“. In den warmen Wochen von 1961 war die Zahl der Flüchtenden aus der DDR nach Westdeutschland enorm angestiegen. Die Menschen fliehen über das noch nicht abgeriegelte Westberlin. Es sind vor allem gut ausgebildete Fachkräfte. Die Hälfte der Flüchtenden ist unter 25 Jahren alt. Die Fluchtwelle erreicht ihren Höhepunkt im Juli 1961. Den Geheimplan zur Abriegelung Westberlins beraten Walter Ulbricht und Nikita Chruschtschow am 3. August in Moskau. Zehn Tage später, am 13. August 1961, wird die Grenze geschlossen.
Im Westen der geteilten Stadt Berlin lebte damals Tapeshwar Nath Zutshi. Ein junger Friedensaktivist aus Indien, der von Mahatma Gandhis gewaltfreien Protesten geprägt war. Zutshi, ausgebildeter Chemie-Ingenieur und Diplom-Psychologe, empfindet das geteilte Deutschland als „eine offene Wunde, zugefügt durch den letzten Weltkrieg“. Er möchte dazu beitragen, dass sie heilt. Von Gandhi hatte er gelernt, dass jeder Mensch auf der Welt etwas tun könne, sei sein Einfluss auch noch so gering. Weil sich das Schicksal von Berlin auf die gesamte Weltpolitik auswirke, empfand er es als seine Pflicht als Weltbürger, sich für ein Berlin ohne Grenze einzusetzen.
Angesichts der harten Fronten im Kalten Krieg verfiel aber die Mehrheit der Menschen in Ost- und Westdeutschland in Resignation, das macht den jungen Mann aus Indien fassungslos. Statt gebannt auf scheinbar Unveränderliches zu schauen, wirbt er für ein Engagement aus der „Stärke vom Gewissen der Menschheit“, schreibt er. Und benennt drei Wege, diese Kraft freizusetzen: „1. Wir sollten so weit wie möglich wahrhaftig sein; 2. Wir sollten so weit wie möglich ohne Hass sein; 3. Wir sollten bereit sein, soviel wie möglich für die Gerechtigkeit zu leiden.“
Er will die eingemauerte Versöhnungskirche befreien
Der Mauerbau im Sommer 1961 scheint Zutshis Forderungen zu widersprechen. Alles wurde eingemauert, sogar das Portal der Versöhnungskirche, mit ihrem hohen Turm an der Bernauer Straße, mitten im Todesstreifen gelegen. Einige Monate später plant Zutshi einen Protest, genau hier, im Angesicht der unzugänglichen Kirche. Er teilt mit, dass er diesmal an der Grenze nicht wie sonst nur meditieren möchte. Vielmehr werde er an der eingemauerten Kirche die Sperrwand mit Brecheisen abreißen.
Da auch die Ostberliner Sicherheitsbehörden informiert sind, bringen sie ein Maschinengewehr auf den Kirchturm. Im Westberliner Senat wandelt sich die Sympathie für den indischen Friedensaktivisten in die Ahnung eines gefährlichen Abenteuers mit ungewissem Ausgang. Ein Jahr liegt zurück seit dem Mauerbau. 26 Menschen sind seitdem auf der Flucht aus Ostberlin umgekommen. Erst in den letzten Wochen wurden drei Flüchtende erschossen. Eine Konfrontation mit Ostberlin möchte der Senat nicht riskieren: Zutshi wird der Mauer-Abbruch verboten.
Umringt von Hunderten von Menschen erklärt Zutshi am Tag der Aktion immer wieder, dass er die polizeiliche Absage seines Vorhabens akzeptiert. Am Ende lädt er die Umstehenden ein, vielmehr am Sonntag wiederzukommen. Er möchte hier an der vermauerten Versöhnungskirche Gebetsstunden organisieren. Am folgenden Sonntag setzt er seine Idee um. Rund 300 Menschen waren gekommen. Es wurden religiöse und weltliche Lieder gesungen. Als von der Ostberliner Seite aus einem Lautsprecher Tanzmusik über die Mauer dröhnte, lud Zutshi zum Schweigen ein. Er bat die Versammelten, für die Menschen jenseits der Mauer zu beten. Er gedachte der Flüchtlinge, die an der Berliner Mauer erschossen wurden.
Mit dem Faltboot von Neukölln nach Ostberlin
Noch zwei Jahre bleibt Zutshi in Westberlin. Er stellt sich mit Plakaten auf die Straße, betreibt Pressearbeit und schreibt Briefe an den SED-Chef Walter Ulbricht. Er organisiert Pilgermärsche zum Eisernen Vorhang, an die österreichisch-ungarische Grenze. In Berlin geht er demonstrativ am Checkpoint Charlie bis an die mit dem weißen Strich markierte Grenze heran, in der Hand ein Bild von Gandhi. Mit einem Faltboot paddelt er von Berlin-Neukölln über einen Kanal nach Ostberlin. Auf sein Boot hat er mit weißer Farbe geschrieben: „Freiheit“.
Zuspruch in der breiten Öffentlichkeit findet Zutshi jedoch nicht. Kaum jemand verstehe sein Anliegen, bedauert er, mit persönlichen Opfern das Zugehörigkeitsgefühl zu bekräftigen – zu den Menschen in Ostdeutschland. Berliner Freunden hatte er anvertraut, dass er zurückreisen werde, nach Indien. Dort verliert sich seine Spur. 2008 soll er verstorben sein, im Alter von 81 Jahren.
Gern hätte ich es ihm gegönnt, heute noch einmal an die Bernauer Straße zu kommen. Um ihm die Umrisse zu zeigen, wo die alte Versöhnungskirche gestanden hat. 1985 wurde sie gesprengt. Aber nach dem Sturz der Mauer hat die Gemeinde ihr Grundstück zurückerhalten. Sie errichtete darauf eine kleine Kapelle. Gebaut aus Lehm, vermischt mit dem Schutt der gesprengten Kirche. Diese Kapelle ist heute das spirituelle Zentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer, dem zentralen Gedenkort der Bundesrepublik für die deutsche Teilung.
Tapeshwar Nath Zutshi wäre es aufgefallen, dass die Gemeinde die Erinnerung wach hält an die Menschen, die an der Mauer ums Leben gekommen sind. Und dass der Geflüchteten gedacht wird, die bis heute auf der Flucht nach Europa sterben. Diese berührende Mahnwache nennt die Versöhnungsgemeinde „Menschen-Gedenken“.
Thomas Jeutner ist Pfarrer der Versöhnungsgemeinde in Berlin-Wedding.
Veranstaltungshinweise:
13. August, 12 Uhr:?Ökumenische Andacht zum Gedenken an Ida Siekmann, erstes Todesopfer an der Berliner Mauer. Mit Bischof Christian Stäblein, Erzbischof Heiner Koch und Pfarrer Thomas Jeutner. Kapelle der Versöhnung und draußen,
15.00 &?16.00 Uhr: Eine Mauer quer durchs Leben – Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich, Besucherzentrum Gedenkstätte Berliner Mauer (Begrenzte Platzkapazität, es gilt die 3-G-Regel)
18.00 Uhr & 19.30 Uhr: CD-Release-Konzert: „Der Klang der Versöhnung“, Orgelmusik von Annette Diening, Kapelle der Versöhnung.