Sechs Wochen vor der Bundestagswahl wächst in Deutschland die Sorge über den Einfluss sozialer Medien. Der sei aber geringer als oft angenommen, sagen Fachleute. Ignorieren dürfe man das Netz aber trotzdem nicht.
Die Wirkung sozialer Medien auf die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger wird nach Einschätzung der Kommunikationswissenschaftlerin Judith Möller überschätzt. Bei einem Pressegespräch des Science Media Centers in Köln sagte die Professorin der Universität Hamburg und des Leibniz-Instituts für Medienforschung am Mittwoch: “Der Anteil an der Wahlentscheidung, für den Medien allgemein oder soziale Medien im Speziellen allein verantwortlich sind, ist sehr klein.”
Wen man wähle, hänge von vielen verschiedenen Faktoren ab, wie persönliche Erfahrungen, der Ort des Aufwachsens, Gespräche, die man im sozialen Umfeld vor der Wahl führt. Diese Faktoren beeinflussen Möller zufolge aber auch wieder, welche Medien man nutzt, weswegen der alleinige Einfluss von klassischen Medien wie auch sozialen Netzwerken nur schwer zu messen sei. Das liege auch daran, dass die Betreiber der großen Online-Plattformen der Forschung weiterhin nur sehr wenige Daten zur Verfügung stellten.
Dass dem Wahlkampf auf Online-Plattformen so viel Beachtung geschenkt werde, hat Möller zufolge einen einfachen Grund: “Der Medienwahlkampf ist etwas, das Parteien und Kandidaten beeinflussen können. Wo jemand aufgewachsen oder zur Schule gegangen ist, lässt sich nicht mehr verändern.” Mit sinkender Parteienbindung und sinkendem Interesse an klassischen Nachrichten sei der Einfluss sozialer Medien in den vergangenen Jahren aber gewachsen, so Möller weiter. Besonders bei Themen, mit denen man sich nicht gut auskenne, sei die Medienwirkung größer. Grundlegende Werte und Normen ließen sich davon hingegen weniger beeinflussen, so die Kommunikationswissenschaftlerin.
Im Gegensatz zu klassischen Medien bieten soziale Netzwerke Möller zufolge die Möglichkeit einer besseren Vernetzung, sowohl der politischen Akteure als auch der Anhängerschaft: “Die Partizipation an einer politischen Kampagne ist sehr einfach, Menschen können – gerade auch mit Bild- und Video-KI sehr leicht eigene Inhalte erstellen.” So überzeuge man die Menschen vielleicht nicht von etwas völlig Neuem, festige aber bereits vorhandene Überzeugungen.
Mit Blick auf die Entscheidung der Plattformen Facebook, Instagram und Threads, künftig weniger zu moderieren und weniger Faktenchecks zur Verfügung zu stellen, warnt Möller: “Wenn in einem digitalen Raum eine toxische Kultur herrscht, ziehen sich bestimmte Gruppen eher zurück als andere.” Die Partizipation verschiebe sich zu den Gruppen, die mit einer toxischen Atmosphäre besser umgehen können, die Diversität sinke. Ignorieren sollte man den Wahlkampf im Netz aber trotz der kleinen Effekte nicht, so Möller: “Die Effekte sind klein, aber Wahlen können sich auch ein paar Prozentpunkten entscheiden.”