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„Engagiert euch“

Bürgerbeteiligung ist nach Ansicht von Diakoniepräsident Ulrich Lilie das beste Mittel gegen Frust und Zukunftsangst. Außerdem helfe es, miteinander zu reden und sich zuzuhören.

Mit ihrer Kampagne „Unerhört!“ wirbt die Diakonie zur Zeit für eine offene Gesellschaft. Der Wohlfahrtsverband will die Menschen damit wachrütteln und eine Plattform für einen Diskurs rund um soziale Teilhabe bieten. Ihr Ansatz: Jeder Mensch hat ein Recht darauf, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Auf der Kampagnenwebsite „unerhört.de“ kommen Menschen zu Wort, die sich nicht gehört fühlen: Obdachlose, Flüchtlinge, besorgte Bürger, Migrantenkinder, Alte. Über die Kampagne und wie sie dazu beitragen kann, die Demokratie zu sichern, sprach Jörg Fischer mit Ulrich Lilie, dem Präsidenten der Diakonie Deutschland.

Herr Lilie, Wählerverdruss, Zulauf für Populisten, Vereinzelung. Welche Folgen hat das für unsere Gesellschaft?
Viele Menschen in unserem Land fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Welt wird unübersichtlicher, das Tempo steigt und die Gerechtigkeit droht auf der Strecke zu bleiben. Menschen auf dem Land oder in armen Kommunen erleben, dass ein Betrieb nach dem anderen dicht macht und sie ihre Arbeit verlieren, dass Supermärkte schließen und Bahn- oder Busverbindungen eingestellt werden. In den Metropolregionen dagegen boomt die Wirtschaft. Hier sind nicht nur alle Annehmlichkeiten des Lebens vorhanden, sondern auch eine soziale Infrastruktur, die meist noch kostenlos ist.
In Ostdeutschland fühlen sich Menschen mit ihren Lebensverläufen nicht gesehen, ihre Qualifikationen werden nicht anerkannt und die guten Jobs werden immer noch von Wessis besetzt. Dies alles gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zustimmung zur anstrengenden Staatsform Demokratie.

Ihr Rezept gegen den Wut und den Hass vieler Menschen in unserem Land lautet: „Zuhören“. Was ist damit gemeint?
Im aktuellen digital-medialen Lärm sind nur noch wenige Menschen bereit, ihrem Gegenüber wirklich zuzuhören, respektvoll miteinander zu diskutieren und auszuhalten, dass nicht alle Menschen einer Meinung sind. Es wird viel zu viel übereinander, und viel zu wenig miteinander gestritten und gesprochen. Das Miteinander-Reden, die Begegnung werden in unserer immer vielfältigeren Gesellschaft aber immer wichtiger. Wir müssen wieder lernen, das Gespräch auch mit Kritikern und Fremden nicht abbrechen zu lassen – sofern sie bereit sind, auch mir zuzuhören. Wir sollten uns viel öfter auch das sagen lassen, was wir nicht hören wollen. Das übt. Davon lebt Demokratie.

Die Diakonie Deutschland hat im vergangenen Jahr die Kampagne „Unerhört!“ gestartet, die bis 2020 laufen soll. In Ihren Augen ein Erfolg?
Unbedingt. Das Motto unserer Unerhört!-Kampagne ist „Zuhören“ und das machen wir auch. Auf unserer Kampagnenwebsite „unerhört.de“ kommen die Menschen zu Wort, die sich nicht gehört fühlen: Obdachlose, Flüchtlinge, besorgte Bürger, Migrantenkinder, Alte. Auf „Unerhört!“-Foren in ganz Deutschland habe ich mit Menschen gesprochen, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen und habe mir ihre Lebensgeschichten angehört. Mit ihnen haben wir dort mit politisch Verantwortlichen und Akteuren der Zivilgesellschaft diskutiert und nach Lösungen für neue Fragen gesucht.

Die Diakonie spricht mit ihrer Kampagne vor allem die Abgehängten in unserer Gesellschaft an…
So versteht sich die Diakonie ja auch: Wir wollen die Stimme derjenigen sein, die sonst keine Lobby haben. Das Ziel der Kampagne ist es, Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und das Miteinander in unserer Gesellschaft anzustoßen und auf diese Weise die Demokratie zu stärken. Denn nur im Gespräch ist die Demokratie lebendig. Und nur eine sozial gerechte Demokratie wirkt überzeugend.

Es gibt die Abgehängten in der Gesellschaft. Dazu kommt auch noch eine große Zahl von Menschen aus der Mittelschicht, denen es ja eigentlich gut geht, die sich trotzdem Sorgen um die Zukunft machen und AfD und Pegida unterstützen. Was sagen Sie denen?
Es gibt keine einfachen Antworten auf die großen Herausforderungen der Zeit wie Globalisierung, Digitalisierung, Migration. Aber diese Herausforderungen werden nicht kleiner, wenn wir uns nach einer vermeintlich guten alten Zeit zurücksehnen. Die Probleme können nur von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam bewältigt werden. Und wir können sie bewältigen. Diakonie und Kirche verstehen sich dabei als Teil der Lösung, übernehmen Verantwortung. Sie sind vor Ort mit bewährten Strukturen wie Stadtteiltreffs, Tafeln, Kitas, Tagespflege. Sie kennen die Probleme im Kiez, im Quartier und können neue Bündnisse mit anderen Akteuren eingehen. Den Zuschauerdemokraten sage ich: „Engagiert euch auch!“. Der Staat ist auf eine aktive Bürgerschaft angewiesen. Und etwas tun, etwas gegen die Ursachen der Zunftsangst zu unternehmen, ist das beste und nachhaltigste Rezept gegen Frust und Angst.

Sie sehen sich als „Lobbyist“ der Sozialpolitik. In Berlin gibt es tausende von Lobbyisten, vor allem von großen Unternehmen. Wie sehen Sie den Einfluss der Sozialverbände im Politik-Betrieb?
Zu unseren Aufgaben gehört, der Bundesregierung zu zeigen, wie sich ihre Gesetzgebung auf bestimmte Zielgruppen auswirkt. Die Vorstände und Fachleute der Diakonie Deutschland erarbeiten Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben, wir werden zu Anhörungen in den Bundestag eingeladen. Die Politik nimmt unsere Expertise ernst, das erleben wir in Gesprächen mit Politikern aus Parlament und Regierung. Konkreten Erfolg hatten wir mit unserer Forderung nach einer flächendeckenden unabhängigen Asylverfahrensberatung. Sie wurde in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ebenso geht das Finanzierungsmodell „Passiv-Aktiv-Transfer“, das Langzeitarbeitslosen Teilhabe an Arbeit statt lebenslanger Alimentierung ermöglichen soll, auf ein Konzept der Diakonie zurück.

Wir leben in einer Zeit der fast schon täglichen TV-Talkshows. Sie kritisieren, dass dabei oft aneinander vorbeigeredet wird. Lehnen Sie eine Beteiligung daran ab oder lädt man Sie dazu nicht ein?
Ich mache es vom Thema und den Gesprächspartnern abhängig. Wir sehen zu oft immer die gleichen Gäste in Talk-Shows, die den Zuschauern eine Art öffentliches Kasperletheater bieten. Das Krokodil und die Prinzessin stehen meist im Vornherein fest.

Was muss die Politik tun?
Die Politik muss zu den Themen zurückkehren, die die Menschen bewegen. Diese Themen sollten im Dialog mit den Menschen und in einem lebendigen Parlamentarismus kontrovers diskutiert werden. In Berlin hatte der Planer des sehr gelungenen „Band des Bundes”, also der Meile zwischen Kanzleramt und Bundestag sowie Abgeordnetenbüros, in der Mitte auch ein Bürgerforum geplant. Hier sollten solche Dialoge stattfinden. Dieses Haus ist nie gebaut worden, da ist im Wortsinn Gras drüber gewachsen. Aber da fehlt etwas im Politikbetrieb. Die Menschen sorgen sich trotz annähernder Vollbeschäftigung um ihren Arbeitsplatz, haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Sie haben Sorge, die Miete für ihre Wohnung nicht mehr bezahlen zu können. Sie sorgen sich um ihre Rente und die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder. Verfolgt man aber den politischen Diskurs, glaubt man manchmal, in Deutschland und Europa dreht sich alles nur noch um Flüchtlinge und Migranten.

Die „Linke“ vertritt in gewissem Maße die gleichen Ziele wie Sie in der Sozialpolitik. Folgt man ihrer Logik, müssten die Menschen, die sich allein gelassen fühlen, sie in Massen wählen. Ist aber nicht so?
Unser Ziel, Chancengerechtigkeit und Teilhabe für alle Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung zu schaffen, teilen wir mit den meisten demokratischen Parteien. Viele unserer Forderungen sind auch deckungsgleich mit den anderen Parteien: Grünen, SPD, FDP und CDU/CSU. Die Vorbehalte vieler Menschen gegenüber einer Partei, die ihre Wurzeln in der SED hat und sich immer noch nicht klar genug von dieser Geschichte distanziert hat, überraschen mich nicht. Die Erfolge der Linken in einigen Bundesländern und auch auf der Bundesebene resultierten meines Erachtens auch aus einer Art Verdrossenheit mit den etablierten Parteien. Jetzt hat die AfD viele dieser Wähler vereinnahmt.

Die Kritik an der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 ist nachträglich gerade in konservativen Kreisen immer lauter geworden. Jetzt versucht die CDU, die „Willkommenskultur“ zu relativieren. Ist das ein richtiger Schritt?
Nach wie vor halte ich die Entscheidung der Bundeskanzlerin, 2015 die deutschen Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, für richtig. In solchen Momenten entscheiden wir  auch über die Humanität einer Gesellschaft. Leider folgten keine Konzepte für die Integration der Geflüchteten, es gab viel Behördenversagen. Integration ist ein Marathonlauf, da braucht man einen langen Atem und Ausdauer und kann nicht einfach mittendrin abbiegen. Unser Land ist längst ein Einwanderungsland geworden, und es braucht Einwanderung, wenn wir die Sozialsysteme und die Arbeitsmärkte fit halten wollen. Es wird Zeit, dass wir uns hier ehrlich machen.