Seit Ende September 2023 ist Dieter Puhl, ehemaliger Leiter der Stabsstelle christliche und gesellschaftliche Verantwortung der Berliner Stadtmission, im Ruhestand. 31 Jahre lang war der Diakon und Sozialarbeiter bei der Hilfsorganisation im Einsatz, unter anderem als Leiter der Wohnungslosenhilfe und der Bahnhofsmission am Zoo. Ulrike Mattern traf ihn in einem Café in Berlin-Charlottenburg zum Gespräch.
Seit mehr als einem halben Jahr können Sie Ihre Zeit frei gestalten – wie fühlt sich das an?
Dieter Puhl: Ich hatte gerade Geburtstag, komischerweise einen ausgelasseneren Geburtstag als viele davor, und überlegte: Was will ich jetzt mit 67 tun? Ich möchte unvernünftiger sein! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ein Leitwort: „Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche.“
30 Jahre lang war ich berufsbedingt – da bin ich stolz drauf – sehr vernünftig, seriös, vertrauensvoll. Ich war immer befasst mit ganz, ganz ernsten Themen, die etwas mit versehrten, psychisch kranken und obdachlosen Menschen zu tun hatten. Das waren selten lustige Sachen, obwohl unsere Gäste bei der Stadtmission nicht humorlos, sondern ganz pfiffig sind und manchmal eine ungemeine Leichtigkeit haben. Aber jetzt möchte ich mit meinen Enkelkindern lachen; meine Tochter wird im August das dritte Mal Mutter, ich habe schon zwei Enkeltöchter.
Wenn Sie auf Ihre Zeit bei der Berliner Stadtmission zurückblicken – was hat sich in den mehr als drei Jahrzehnten Ihrer Tätigkeit zum Guten gewendet?
Vor 30 Jahren sagten alle: Ich finde die scheiße, die Obdachlosen. Die Bertelsmann-Stiftung hat vor drei Jahren erhoben, dass sich das Bild von obdachlosen Menschen und Flüchtlingen in Deutschland ganz erheblich zum Positiven verändert hat. Jetzt sagen nicht mehr 95 Prozent, die finde ich furchtbar, sondern nur noch 60 Prozent. An 35 Prozent haben wir 30 Jahre gearbeitet. Und ich wünsche meinen Kolleginnen und Kollegen alles Gute, dass sie das auch noch so schaffen.
Ende April hat Bundesbauministerin Klara Geywitz den Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit vorgestellt. Auch der Berliner Senat hat das Ziel, die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Reichen die Maßnahmen auf Senats- und Bundesebene aus?
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung etwas macht. Aber in der Berichterstattung lese ich, dass die Pläne vage bleiben würden. Jahrelang sitzen Politikerinnen und Politiker an dem Thema, und immer bleibt der Plan bei der konkreten Überwindung der Obdachlosigkeit und Versorgung mit Wohnraum vage. Eine Sache fand ich sehr konkret: dass Obdachlose mit Krankenversicherung versorgt werden. Da hat sich in Berlin in den letzten Jahren schon einiges getan, so sensationell ist diese Forderung also nicht: Es gibt Arztambulanzen, Schuldnerberatungsstellen und Beratungsstellen, vor zehn Jahren war das ein Problem, dass Obdachlose nicht krankenversichert waren. In Berlin ist das nicht mehr so.
Aber mal ein bisschen kritisch gefragt: Wo war [Bundesgesundheitsminister] Karl Lauterbach bei dem Termin mit Frau Geywitz? Wo war [Arbeitsminister] Hubertus Heil? Wer war aus dem Bereich der Bildung dabei? Wo war der Direktor des Diakonischen Werkes? Wo waren Bischöfe? Sie wollen Obdachlosigkeit nach 150 Jahren in Deutschland und Europa überwinden – und die waren alle nicht dabei? Das wird nicht funktionieren. Es bleibt eine Herausforderung.
Wie könnte es besser laufen?
Wenn du all diese Menschen zusammenbringst, hast du den Ansatz einer Chance. Und hören wir mit der Märchenstunde auf, wenn es um Wohnraum geht: 100000 Wohnungen pro Jahr sind anvisiert, wir sind gerade bei 22000. Wir werden bis 2030 mit absoluter Sicherheit nicht die erforderliche Zahl bauen. Man kann nur die nehmen, die vorhanden sind plus einiger öffentlicher Wohnungen. Etwa Sozialwohnungen, die frei werden, weil Menschen wegziehen oder versterben. Es muss eine konkrete Quote geben, sodass eine bestimmte Zahl dieser Wohnungen bis 2030 an obdachlose Menschen und Flüchtlinge – denn viele Menschen kommen in den Sektor – gegeben wird. Damit werden sie einen politischen Verteilungskampf bereiten, weil im Zweifelsfall der obdachlose Mann und nicht die verarmte Bürgerin die Wohnung bekommt.
Und sie werden die Obdachlosigkeit nicht überwinden können, wenn sie sich nicht um die Psyche der Menschen kümmern. Ganz ehrlich: Die hatte mal eine Wohnung. Du wirst nicht obdachlos geboren, sondern du verlierst deine Wohnung. Dieser Verteilungskampf braucht eindeutig politische Patenschaften. Aber wer treibt dieses Thema in Berlin voran? Als Wunsch, ganz vorsichtig formuliert: Was wäre das für ein Signal gewesen, wenn Olaf Scholz bei dem Termin mit Frau Geywitz dabei gewesen wäre?
Manche Menschen empfinden in ihrem Alltag die Begegnung mit obdachlosen Menschen als Belastung. Wie bewahren wir unser Mitgefühl?
Ich frage umgekehrt: Wie schaffen sie es, 20 Jahre an Sterbenden vorbeizugehen und nicht mitzufühlen? Sie müssen Kraft dafür aufbringen. Die Kraft ist nur anders. Sie ist meines Erachtens eine destruktive, weil auch das Wegschauen, die Hartherzigkeit Kraft erfordert. Ich versuche, Mut zu machen, auf die Menschen zuzugehen, miteinander zu reden. Vorsichtig fragen, mit Respekt: Was brauchst du? Mancher hat genug Kaffee und schon drei Brötchen bekommen. Aber eine obdachlose Frau hat zum Beispiel keine Bürste. Bürsten haben sie auch in Kleiderkammern nicht so viele. Dann können sie in der Drogerie eine kleine Bürste kaufen und sie ihr geben.
Wenn die Politik das Thema zögerlich voranbringt – was kann denn die Gesellschaft tun?
Es hört sich so leicht an, Menschen mitzunehmen. Sie brauchen lichte Momente dabei – und ein paar Instrumente. Einige Projekte durfte ich bei der Stadtmission vor 15 Jahren mitprägen, wir nannten das Sozialtage in der Bahnhofsmission. Du musst den Menschen Zeit geben, das kriegst du nicht in fünf Minuten in der Kneipe hin. Einen Sozialtag aber schon. Jemand sagt mit einem Mal: Okay, ich arbeite an einem Nachmittag mit. Dann musst du vorbereitet sein, dich um den Menschen kümmern, ihm praktische Beispiele geben und ein bisschen theoretischen Background vermitteln. Dann bleiben Leute kleben. Du musst mit ihnen quatschen und ihnen etwas anbieten. Die 95 Prozent, die vor 30 Jahren gegen das Thema waren, hatten ja auch gar keine Ahnung von Obdachlosigkeit. Faire Berichterstattung über die Menschen und jeden Tag daran erinnern – dann ändert sich etwas.