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Die Vertrauensfrage und der Weg zu Neuwahlen

Die Ampel-Koalition hat mit dem Ausscheiden der FDP im November ihre parlamentarische Mehrheit verloren – rund elf Monate vor dem regulären Ende der Wahlperiode. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will am Montag den Bundestag über die Vertrauensfrage abstimmen lassen. Erhält er nicht die Mehrheit der Stimmen, ist der Weg frei für Neuwahlen. Diese sollen voraussichtlich am 23. Februar stattfinden.

Den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen regelt der Artikel 68 des Grundgesetzes. Scholz hat die Vertrauensfrage am Mittwoch beantragt. Findet sein Antrag dann am kommenden Montag nicht die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Kanzlers binnen 21 Tagen das Parlament auflösen. Die Neuwahl des Bundestags muss nach dessen Auflösung laut Grundgesetz innerhalb von 60 Tagen stattfinden.

Mehrere Kanzler nutzten in der Vergangenheit das Instrument der Vertrauensfrage – entweder mit dem Ziel, die eigene Koalition zu disziplinieren, oder mit der Absicht, die Abstimmung gezielt zu verlieren. Von den fünf Vertrauensfragen, die in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik vom Regierungschef gestellt wurden, führten drei zur Auflösung des Parlaments mit anschließenden Neuwahlen.

Willy Brandt (SPD) stellte wegen einer Pattsituation im Parlament im September 1972 als erster Bundeskanzler die Vertrauensfrage. Durch eine Abstimmungsniederlage wollte er den Weg für Neuwahlen frei machen. Auch Helmut Kohl (CDU) führte im Dezember 1982 über eine absichtlich verlorene Vertrauensabstimmung Neuwahlen herbei.

Als letzter Kanzler vor Scholz stellte Gerhard Schröder (SPD) im Juli 2005 die Vertrauensfrage mit dem Ziel der Parlamentsauflösung. Während Brandt und Kohl die auf diesem Wege herbeigeführten Bundestagswahlen gewannen, verlor Schröder sie. Ihm folgte Angela Merkel (CDU) als Kanzlerin.

Die bewusst mit dem Ziel von Neuwahlen gestellte Vertrauensfrage, obwohl das Regierungslager über eine Mehrheit verfügt, ist politisch wie staatsrechtlich umstritten. Das von zwei Abgeordneten angerufene Bundesverfassungsgericht entschied 2005, dass die auf die Auflösung des Bundestags gerichtete Vertrauensfrage nur gerechtfertigt sei, „wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist“.

Helmut Schmidt (SPD) wie auch Gerhard Schröder setzten das Instrument der Vertrauensfrage ein, um sich des Rückhalts der eigenen Koalition zu vergewissern – Schmidt im Jahr 1982, Schröder im Jahr 2001. In beiden Fällen sprach die Mehrheit der Abgeordneten dem Kanzler das Vertrauen aus. Schröder ist der einzige Kanzler, der zweimal die Vertrauensfrage stellte.

Eine Selbstauflösung des Bundestags oder dessen Auflösung allein durch den Bundespräsidenten sieht das Grundgesetz nicht vor – eine Konsequenz aus der gescheiterten Weimarer Republik. Die Weimarer Verfassung gab dem Reichspräsidenten das Recht, den Reichstag aufzulösen. Häufige Neuwahlen waren die Folge, bis die Nationalsozialisten die Demokratie abschafften.

Die Abwahl eines amtierenden Kanzlers auf einem anderen Weg sieht der Artikel 67 des Grundgesetzes vor. Beim sogenannten konstruktiven Misstrauensvotum spricht der Bundestag dem Kanzler das Misstrauen aus, indem er mit absoluter Mehrheit einen Nachfolger wählt. Im Oktober 1982 wurde Helmut Schmidt durch ein solches Misstrauensvotum gestürzt, Helmut Kohl kam ins Amt. Zuvor war die von Schmidt geführte sozialliberale Koalition zerbrochen.

Scholz ist nach dem Bruch der Ampel-Koalition Chef einer Minderheitsregierung von SPD und Grünen. Die beiden Parteien verfügen über 324 von 733 Mandaten im Bundestag. Anders als die Kanzler Brandt, Kohl und Schröder muss Scholz eine Niederlage bei der Vertrauensabstimmung also nicht absichtlich herbeiführen.