Rüdiger Schuch ist seit Jahresbeginn Präsident der Diakonie. Im Interview spricht er über die Haushaltspläne der Ampel, Missbrauchsaufarbeitung und seine Sorge um die Demokratie. Bisher habe er den Kontakt zur AfD bewusst gemieden, sagt er – und plant das auch im neuen Amt. Eine Herausforderung sieht er aber im Umgang mit Kommunalpolitikern der Partei.
Herr Schuch, seit Jahresbeginn sind Sie Präsident der Diakonie. In Berlin streitet die Politik über den Haushalt, Bauern haben protestiert, Lokführer gestreikt: Wie war das Ankommen in der Hauptstadt?
Rüdiger Schuch: Ich erlebe eine Stadt, die ein bisschen im Ausnahmezustand ist. Es war gelegentlich schwierig, von A nach B zu kommen. Man spürt einfach, dass es momentan in dieser Republik viele Herausforderungen und unterschiedliche Interessen gibt – und dass es schwer ist, die unterschiedlichen Interessen beieinander zu halten.
Wie nehmen Sie die gesellschaftliche Stimmung wahr?
Ich bin besorgt darüber, dass viele Menschen das Vertrauen in die demokratisch gewählte Politik, konkret die Bundesregierung, verloren haben. Oftmals spielt nicht der Streit um politische Antworten die wichtigste Rolle, sondern die Frage, ob „das System“ noch richtig ist. Offensichtlich hinterfragen das viele – nicht nur diejenigen, die populistische Parteien wählen. Man sieht das auch an der hohen Zahl derer, die nicht mehr zur Wahl gehen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Bei der Landtagswahl haben 45 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme nicht abgegeben.
Für Erschrecken hat kürzlich eine Recherche von „Correctiv“ gesorgt, die Pläne Rechtsextremer zur Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund offenbart hat. Wie haben Sie das aufgenommen?
Die menschenverachtende Ideologie, die dort zum Vorschein kommt, ist leider nichts Neues. Durch die aktuellen Berichte wird aber offensichtlich, dass diese radikale rassistische Ideologie in der populistischen AfD endgültig angekommen ist. Und dass sich der Hass gegen immer mehr Menschen richtet, ob Deutsche oder nicht. Wir müssen in einem breiten Bündnis von Demokratinnen und Demokraten dagegen kämpfen. Diese Ideologie darf sich nicht durchsetzen.
Wie werden Sie persönlich denn damit umgehen, wenn Treffen oder Gespräche mit Abgeordneten der AfD im Raum stehen?
In meinen bisherigen Tätigkeiten habe ich den direkten Kontakt zur AfD bewusst gemieden. Auch jetzt sage ich: Eine derart radikalisierte Partei ist kein politischer Gesprächspartner für die Diakonie. Ich möchte aber unterscheiden zwischen denen, die sich als Parteimitglieder oder Funktionäre immer weiter radikalisieren, und den Menschen, die sich bei einer Wahl für diese Partei entscheiden. Wir müssen weiter das Gespräch mit Wählerinnen und Wählern der AfD suchen.
In einer Handreichung aus dem Jahr 2018 hatte die Diakonie „professionelle Gelassenheit“ im Umgang mit AfD-Politikern empfohlen. Gilt das noch?
In unserer Handreichung ziehen wir eine deutliche Linie gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Die neue Herausforderung heißt: Wie gehen wir um mit gewählten Amtsträgern der AfD wie Landräten oder Bürgermeistern? Denn mit denen müssen wir gezwungenermaßen auf einer verwaltungstechnischen Ebene reden, ob wir wollen oder nicht. Dabei ist für uns allerdings jederzeit klar: Wir sind entschieden in dem, was Diakonie ausmacht: dass man Menschen die Würde nicht abspricht, dass man Menschen unabhängig von Herkunft und Geschlecht offen begegnet und dass wir versuchen, eine gerechte und teilhabeorientierte Gesellschaft für alle mitzugestalten.
Die Haushaltsberatungen auf Bundesebene nähern sich dem Ende. Die Ampel-Koalition muss sparen. Spart sie an den richtigen Stellen?
Dass die Koalition sparen muss, ist ja nur die eine Wahrheit. Man kann es auch so sagen: Die Koalition braucht Geld für ihre Politik. Da sollte man neben Sparbemühungen auch fragen, wo Geld generiert werden kann.
Wie wäre Ihre Antwort?
Wir können Menschen mit guten Einkommen anders besteuern. Ich halte es zudem für richtig, die Vermögenssteuer neu auszurichten. Und ich halte es für richtig, bei Steuerhinterziehung genauer hinzuschauen. Das alles wäre besser, als wieder beim Bürgergeld zu sanktionieren oder über dessen Höhe zu diskutieren.
Warum finden Sie das falsch?
Die Diskussion geht an den Menschen vorbei. Ich kenne persönlich niemanden, der gern Bürgergeld bezieht oder darin ein Lebensmodell sieht. Und in Spardiskussionen ausgerechnet bei denjenigen anzusetzen, die selbst nicht ihre Stimme stark machen können, halte ich wirklich für verwerflich. Wenn wir an der Stelle das soziale Gleichgewicht gefährden, wird das Vertrauen in die Politik und die Demokratie weiter geschwächt. Das können wir uns nicht erlauben.
Es sollte uns außerdem nachdenklich stimmen, dass trotz Bürgergeldbezugs die Zahl derer, die zu den Tafeln gehen, weiter steigt. Und wenn wir eine Diskussion darüber führen, ob der Abstand vom Bürgergeld zu den unteren Einkommen zu gering ist, müssen wir eher über den Niedriglohnsektor reden.
Und warum finden sie Sanktionen für diejenigen falsch, die sich jeglicher Arbeit verweigern?
Natürlich gibt es das in einzelnen Fällen, und das ist verwerflich. Wir sprechen aber über kein Massenphänomen, sondern eine kleine Zahl. Auch der Bundesarbeitsminister müsste das wissen. Zur Realität gehört außerdem auch, dass die meisten Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger gar nicht die Voraussetzungen mitbringen für den ersten Arbeitsmarkt. Sie müssen vielmehr zunächst unterstützt werden, um sie in Arbeit zu bringen. Wir wissen aus unseren täglichen Erfahrungen vor Ort, dass Sanktionen dabei kontraproduktiv sind.
Von den Herausforderungen für die Politik zu einer der großen Herausforderungen für die Kirchen: der Umgang mit sexualisierter Gewalt. Ende des Monats wird die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragte Studie zu Ausmaß und Risikofaktoren für Missbrauch vorgestellt, die auch die Diakonie umfasst. Was erwarten Sie?
Wir kennen die Ergebnisse erst am 25. Januar. Aber schon jetzt wissen wir: Kirche und Diakonie haben gegenüber ihnen anvertrauten Menschen versagt. Dieser katastrophale Vertrauensbruch beschämt mich zutiefst. Wir erkennen dieses Leid der Menschen an, denen Unsagbares geschehen ist, und bitten sie um Entschuldigung. Für mich ist dabei entscheidend, dass diesen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, manchmal leider erst Jahrzehnte später, und dass sie auch eine finanzielle Anerkennung erhalten. Und wir müssen unsere Strukturen kritisch reflektieren.
Welche Strukturen sind das? Können Sie ein Beispiel geben?
Abhängigkeits- und Machtverhältnisse können begünstigt haben, dass Menschen sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Man muss aber auch nach Arbeitsabläufen fragen und nach einer Kultur, die es ermöglicht, solche Taten anzubahnen.
Von den bisher gemeldeten Fällen betreffen zwei Drittel den Bereich der Diakonie. Wie erklären Sie sich das?
Diese Zahlen zeigen, dass es vor allem eine Gefährdung in Kinderheimen gegeben hat. Offensichtlich war es dort möglich, Kindern Gewalt anzutun. Es gab keine Strukturen, die die Perspektive der Kinder im Blick hatten. Das ist erschreckend. Denn zugleich gab es damals besonders gegenüber kirchlichen Häuser eine positive Erwartung von außen: Das ist eine kirchliche Einrichtung, das wird gut sein. Zusammen genommen ergab das eine toxische Mischung.
Seit der Aufdeckung von Missbrauchsfällen wurden viele Präventionsprogramme geschrieben, Stellen eingerichtet, Mitarbeitende geschult: Können Sie sicher sein, dass sexualisierte Gewalt heute verhindert wird oder zumindest rasche Konsequenzen hat?
Die Studie wird helfen, unsere Konzepte für Prävention und Schutz weiter zu verbessern. Das bleibt eine Daueraufgabe. Unsere Einrichtungen müssen Orte sein, in denen man gut und geschützt leben und arbeiten kann. Zur Wahrheit gehört aber auch: Hundertprozentig sicher können wir uns nie sein – und dürfen es auch nicht sein! Denn wir müssen in Kirchen und diakonischen Einrichtungen weiterhin sehr wachsam sein, dass Menschen keine sexualisierte Gewalt widerfährt.