„In diesen Kellern unter dem Lagergebäude wurden während der Diktatur Tausende von Oppositionellen festgenommen, gefoltert und später ermordet“, erzählt die Menschenrechtlerin Karen Cea. Sie steht vor einem einfachen Heulager auf dem Gelände der früheren deutschen Sekte Colonia Dignidad in Chile. Nur leicht schimmert ein zubetonierter Treppenaufgang durch das Heu. „Nach Ende der Diktatur wurde der Eingang verrammelt, um eine Aufklärung zu verhindern.“
Mitten im chilenischen Winter hat sich eine kleine Schar Menschen zur ehemaligen Sektensiedlung aufgemacht, die heute Villa Baviera heißt und von rund 200 Personen bewohnt wird. Die Besucher wollen bei einer Gedenkveranstaltung den Opfern zuhören und politischen Druck aufbauen. Denn die Aufarbeitung läuft mehr als schleppend.
Menschennähe und Liebe gab es nicht
Gegründet wurde die „Siedlung der Würde“ durch den pädophilen Sektenführer Paul Schäfer, nachdem dieser Anfang der 1960er Jahre aufgrund von Ermittlungen wegen Kindesmissbrauch aus Deutschland geflohen war. Schäfer vergewaltigte die Jungen und brach Widerstand durch Pillen, Elektroschocks und Folter. „Wir bekamen jeden Tag Schläge, bis wir zusammenbrachen“, erzählt Horst Schaffrik, der als Dreijähriger in die Siedlung kam. „So etwas wie Menschennähe und Liebe haben wir nie erfahren.“
Bereits 1966 wusste die deutsche Botschaft über die Zustände zumindest teilweise Bescheid. Doch statt dagegen vorzugehen, arbeitete der Bundesnachrichtendienst mit der Siedlung zusammen, um die Umsturzpläne rechter Terrorgruppen gegen den 1970 gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende zu unterstützen.
Mit dem Militärputsch von 1973 wurde die Colonia Dignidad zu einem der wichtigsten Standorte des staatlichen Terrors gegen Oppositionelle. Während der Diktatur von Augusto Pinochet bis 1990 wurden über 3.000 Menschen getötet und laut offiziellen Zahlen fast 30.000 weitere gefoltert, mehrere Hundert davon in der deutschen Siedlung.
Doch nach dem Ende der Diktatur passierte lange nichts. Sektenchef Schäfer wurde erst 2005 festgenommen. Andere leben bis heute unbehelligt, auch in Deutschland, wie der Arzt und Zweite in der Führungshierarchie, Hartmut Hopp. 2021 stellte eine 2017 eingerichtete Kommission aus deutschen und chilenischen Regierungsvertretern ein Konzept zur Einrichtung eines Dokumentations- und Erinnerungszentrums vor.
Umsetzung zur Erinnerungsstätte ist schwierig
Doch die Umsetzung lässt auf sich warten. Erst im Juni kündigte Chiles Präsident Gabriel Boric bei seinem Besuch in Deutschland die Enteignung einzelner Gebäude in der Siedlung für eine Erinnerungsstätte an.
Für den Bundestagsabgeordneten und menschenrechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Michael Brand, liegt ein großes Problem darin, dass die Bundesregierung das Thema auf Beamtenebene belässt. Er fordert ein direktes Eingreifen von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). „Das ist ein Lackmustest, auch für eine an Werten orientierte Außenpolitik.“
In Chile kritisieren derweil Menschenrechtsorganisationen einen Transparenzmangel im staatlichen Aufarbeitungsprozess. „Wir mussten lange darum kämpfen, dass etwa die Protokolle der zweistaatlichen Kommission öffentlich gemacht werden“, sagt Karen Cea. Überdies würden Menschenrechts- und Opferorganisationen zu wenig beteiligt.
Für viele ehemalige Siedler war es ein langwieriger Prozess, sich dem Bann von Paul Schäfer zu entziehen, erläutert Harald Lindemann. Sie hätten schlichtweg keine andere Lebensweise gekannt. Wie andere Kinder musste Lindemann während der Ernte 24 Stunden durcharbeiten. „Wir wurden wie Vieh behandelt.“
Die Colonia zahlte weder Löhne noch Sozialleistungen, was dazu führt, dass die mittlerweile im Rentenalter lebenden Siedler in Chile nur eine Mindestrente von etwa 210 Euro monatlich erhalten. Mehr als 180 Personen haben bis zu maximal 10.000 Euro aus einem Hilfsfonds der deutschen Regierung erhalten – ein vergleichsweise sehr geringer Wert bei Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Insgesamt seien Leistungen in Höhe von 1.874.000 Euro ausgezahlt worden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.
Ehemalige Siedler setzen auf Tourismus
Die derzeitige Leitung der Villa Baviera, die aus Kindern der ehemaligen Führungsriege besteht, ließ eine Interviewanfrage unbeantwortet. Sie setzen zur Finanzierung des Ortes auf Tourismus mit bayerischem Flair und verkaufen über eine große chilenische Lebensmittelkette deutsche Spezialitäten. Da die geplante Enteignung auch den Gastronomie- und Hotelbereich trifft, wird die Einrichtung der Erinnerungsstätte auch ihr wirtschaftliches Modell treffen.
Für die Opferorganisationen eine gute Nachricht. Doch die ehemaligen Siedler, die zum Teil aufgrund fehlender Perspektiven weiterhin dort leben, warnen: Die Enteignung solle weder zu einer weiteren Bereicherung der aktuellen Führungsregie noch zu einer Vertreibung der Bewohner führen.