Dass der drahtige, kleine Mykola Urban im blau-weißen Hawaiihemd an einem Aprilabend im Jahr 2025 in der Berliner Vertretung des Landes Brandenburg sitzt, grenzt an ein Wunder, in mehrfacher Hinsicht. Eigentlich hätte der heute 100-Jährige bereits vor vielen Jahren im KZ Sachsenhausen sterben sollen, wenn es nach den Nationalsozialisten gegangen wäre. Doch ihm gelang es, den Zweiten Weltkrieg zu überleben und an seinen Geburtsort im ostukrainischen Charkiw, unweit der russischen Grenze, zurückzukehren. Dann, im Februar 2022, erlebte Urban mit 97 Jahren noch einmal, wie der Krieg in seine Heimatstadt kam und ihn zur Flucht zwang.
Urban musste schon früh lernen, mit Schicksalsschlägen umzugehen. Mit 13 Jahren verlor er seine Mutter. Er war noch ein Kind, gerade in der 9. Klasse, als der Zweite Weltkrieg begann. Das NS-Regime startete seinen Russlandfeldzug und nahm dabei auch Charkiw ein. Urbans Vater unterstützte die Partisanen, sein Sohn half ihm dabei. Die Deutschen entdeckten, wie die beiden den Widerstandskämpfern Salz lieferten und deportierten den jungen Mann nach Sachsenhausen. Dort musste er im Lager der Deutschen Maschinen AG (DEMAG) Zwangsarbeit als Verlader leisten.
Doch vor Kriegsende gelang ihm mit zwei Kameraden die Flucht. Urban schloss sich dem 197. Regiment der Roten Armee an, das später an der Schlacht um Berlin beteiligt war. Kaum in Freiheit, wurde er verwundet und als kampfunfähig eingestuft. Nach Kriegsende wird er von Stalin als Kollaborateur eingestuft und nach Sibirien geschickt. Als er dann wirklich endlich in Freiheit war, habe er sein Leben lang gearbeitet – bis er 90 Jahre alt war, zuletzt als Gabelstapelfahrer, berichtet er. Die Arbeit habe seinen Körper fit gehalten, Schach spielen seinen Geist. Wenn Urban so über sein Leben spricht, dann wirkt das, als hake er einfach Stationen ab: So sei sein Leben eben gewesen.
Einige KZ-Überlebende haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, als Zeitzeugen die Erinnerungsarbeit mitzugestalten. Nicht so Urban. Dass er überhaupt seine Geschichte wohl zum ersten Mal vor so vielen Menschen in Deutschland erzählt, ist dem Zufall zu verdanken. Maria Kafantari, Journalistin der schweizerischen Zeitung „Freiburger Nachrichten“, befand sich eigentlich auf anderweitiger Recherche in einem Altenheim in Givisiez (Kanton Freiburg). Dort traf sie auf Urban, der nach seiner Flucht aus der Ukraine in dem Heim untergekommen war. Er erzählte ihr von seiner Zeit im KZ, sie nahm Kontakt mit der Gedenkstätte Sachsenhausen auf. Und so wird er zu deren zentralem Gedenktag, dem 4. Mai, im Alter von 100 Jahren zum ersten Mal seit 80 Jahren wieder dort sein.
„Er hat nicht auf alles eine Antwort gehabt – oder haben wollen“, sagt Kafantari, die sich daraufhin mehrfach mit ihm getroffen hat. Als ihn auf der Veranstaltung eine junge Frau fragt, was er zum erstarkenden Rechtsextremismus sagt, antwortet Urban, er sei kein Politiker. Die Leute sollten Parteien wählen, die den Menschen Gutes tun und Wohlstand bescheren. Wer bei Urban einen glühenden Antifaschisten erwartet, wird enttäuscht.
Wer mit Urban redet, wird von ihm an den Händen genommen und bekommt bei der Gelegenheit gleich noch einige Vitaminbonbons gereicht. Das sei gesund, sagt er. Auf jeden Fall gesünder als Alkohol, den er kaum konsumiere – dafür stünden bei ihm jeden Morgen nach dem Aufstehen ein halber Liter Wasser und Sport auf dem Tagesplan.