“Bist du auch weit von mir entfernt, so sind meine Gedanken doch immer bei Dir”, schreibt eine Paula 1919 an ihren Ludwig. Ein Adolf sendet Marthy zwei Jahre zuvor einen innigen Extrakuss und verspricht: “Ganz Dir allein gehöre ich, ich bin ja nur Dir mit ganzem Herzen zugetan.” Ein anderer wiederum liegt “stundenlang im Bett” und denkt “nur an Dich und zwar was ganz wunderbares”.
Mehr als 40.000 Liebesbriefe beherbergt das Archiv, das die Sprachwissenschaftlerin Eva Wyss 1997 gegründet hat und das heute mit Standorten an der Universität Koblenz und der Technischen Universität Darmstadt vertreten ist. “Um sie alle zu lesen, bräuchte ich drei Leben”, sagt Wyss. Gut, dass sie inzwischen Unterstützung von sogenannten Bürgerforscherinnen und -forschern hat.
Jeden Monat geht’s zum Liebesbrief-Stammtisch
Die Freiwilligen sortieren Brief für Brief – bislang rund 6.000 – und diskutieren den ein oder anderen beim monatlichen “Liebesbrief-Stammtisch” in Koblenz und Darmstadt. Für Wissenschaftlerin Wyss fördert diese Zusammenarbeit neue Erkenntnisse zutage, erklärt sie. “Die Bürgerforscher finden häufig andere Dinge spannender als ein Wissenschaftler aus seiner akademischen Warte. Das ist sehr bereichernd”, berichtet sie.
Beim Stammtisch würden gemeinsam zum Beispiel unterschiedliche Liebesbrief-Medien verglichen: der Brief, die Postkarte, das Zettelchen oder die Whatsapp-Nachricht. Und sie überlegten gemeinsam, welche Kriterien zur Differenzierung man aufstellen könnte, um die verschiedenen Formen der Liebesbriefe zu beschreiben.
Es sind laut Wyss rund 25 Männer und Frauen, die sich an dem bürgernahen Forschungsprojekt “Gruß & Kuss” regelmäßig beteiligen, das nach drei Jahren nun diesen März endet. Es seien keineswegs nur pensionierte Deutschlehrer, sondern vor allem Nicht-Akademiker, die durch das Projekt ihre Furcht vor der Universität verloren hätten, erklärt die Professorin.
Hobby-Forschende bereichern die Wissenschaft
“Es entsteht durch Citizen Science, also Bürgerforschung, eine neue Diversität an der Universität”, sagt Wyss. Dafür seien insbesondere auch die Studierenden offen. “Eine Abkapselung der akademischen Welt tut uns nicht gut”, ist sie überzeugt. Das Projekt habe darüber hinaus gezeigt, dass Wissensvermittlung zwischen Forschung und Gesellschaft nicht nur über Vorträge und Medien gelinge, sondern auch über den direkten Kontakt.
Zwei Drittel der Briefe seien bislang eingescannt, tausende warteten noch auf ihre Transkription. Der neueste stammt aus dem Jahr 2023, der älteste von 1715; viele sind in Deutscher Kurrentschrift oder in Sütterlin verfasst. “Sie sind ein ungeheurer Schatz. Ein Kulturerbe, das uns hinterlassen wird, das uns Zugang unter anderem zu den kulturellen Normen und Verhaltensweisen ihrer Zeit ermöglicht”, sagt Wyss.
“Gruß & Kuss” wird vom Bildungsministerium unterstützt
Wie haben sich Beziehungen angebahnt? Wie hat sich die Kommunikation zwischen Männern und Frauen im Laufe der Jahrhunderte verändert und wie sich die Geschlechterrollen? “Wir wollen das Archiv mehr und mehr der Forschung zugänglich machen”, sagt Wyss. Doch vor der Professorin und ihrem Team liegt noch ein wortwörtlicher Berg an Arbeit: stapelweise Briefe, die transkribiert, redigiert und digitalisiert werden wollen.
“Wir möchten deshalb neue Forschungsprojekte starten und schreiben zurzeit Anträge, um Finanzierungen einzuwerben”, sagt Wyss. Allerdings liege die Bewilligungsquote in den Geisteswissenschaften bei unter fünf Prozent, räumt die Forscherin ein. Ob es also nochmal klappt?
Das Forschungsprojekt “Gruß & Kuss – Briefe digital. Bürger*innen erhalten Liebesbriefe” unterstützte das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 500.000 Euro. Wyss schreibt sich mit neuen Projektanträgen aktuell die Finger wund, wie sie sagt. Sie ist sich sicher: Erst einmal abgetippt und digitalisiert, lesen sich die Liebesbriefe schnell. Dann würde auch sie nicht mehr drei Leben für die Lektüre brauchen – und die Forschung wäre um tausende Quellen reicher.