Die Erinnerungen an Otto Dibelius, 1945 bis 1966 evangelischer Bischof von Berlin und Brandenburg, sind ambivalent, jedenfalls dort, wo man sich in Berlin und Brandenburg überhaupt noch an ihn erinnert. Nur noch wenige wissen, dass die Praxis, dass Pfarrpersonen sich am Ausgang nach Gottesdiensten von ihren Gemeinden verabschieden und regelmäßig kirchliche Mitteilungen erscheinen, nicht zuletzt auf seine Visitationen zurückgeht, die er seit 1925 als Generalsuperintendent durchführte.
Otto Dibelius wurde von Kritikern als „Nato-Bischof“ bezeichnet
Gleichzeitig aber blieb Dibelius auch nach 1918 an vielen Punkten dem Kaiserreich und seiner Kultur verpflichtet: Einer seiner früheren persönlichen Referenten wusste zu berichten, dass der Bischof ihn dazu aufforderte, beim Betreten seines Büros die Hacken zusammenzuschlagen und Haltung anzunehmen. Gegner seines Engagements für den Militärseelsorge-Vertrag 1956 diffamierten ihn als „Nato-Bischof“, freilich hatte er sich schon in der Weimarer Republik für ein Recht auf Wehrdienstverweigerung eingesetzt; ungewöhnlich für ein Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, die die Wiederherstellung der Monarchie betrieb.
Nachdem er jahrelang Frauen zur Ordination an die Generalsuperintendenten delegiert hatte, entschloss er sich kurz vor der Pensionierung, doch noch selbst eine Gruppe von Frauen zum Pfarramt zu ordinieren. Seine Haltung zum Judentum war durch schlimme Vorurteile geprägt; seit er 1942 über den industriellen Massenmord an jüdischen Menschen erfuhr, engagierte er sich deutlicher gegen den Nationalsozialismus.
Otto Dibelius lässt sich in keine Schublade einordnen
Anzuzeigen ist ein Sammelband mit Aufsätzen, die auf eine Tagung 2022 zurückgehen und sich um eine präzise Darstellung der Ambivalenzen einer der zentralen Figuren nicht nur unserer Landeskirche, sondern der ganzen Geschichte des 20. Jahrhunderts bemühen. Dabei wird nicht nur deutlich, wie wenig sich Otto Dibelius in eine Schublade einsortieren lässt (beispielsweise die eines konservativen, nationalbewussten Vertreters autoritärer Leitungsstrukturen), sondern auch, wie gut er gerade mit seinen verschiedenen Facetten in den damaligen deutschen Protestantismus passte. Wer sich ein Bild des Mannes und seiner Zeit machen will, findet in dem Buch viele Anregungen dazu.
Buchhinweis: Lukas Bormann & Manfred Gailus: “Otto Dibelius. Neue Studien zu einer protestantischen Jahrhundertfigur”, Christentum in der modernen Welt 8, Mohr Siebeck, Tübingen 2024