Krisen bestimmen den Alltag vieler Menschen – auch rund um Weihnachten. Der Essener katholische Bischof Franz-Josef Overbeck warnt vor Abschottung und Spaltung. Und er verrät, warum er dennoch zuversichtlich bleibt.
Steigende Preise, Existenzängste, Konflikte: Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck spricht im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) darüber, wie sich gerade in seinem Bistum Essen viele Krisen widerspiegeln. Von der neuen Bundesregierung fordert er ehrliche Kommunikation.
KNA: Herr Bischof, wird die Welt aktuell besser oder schlechter?
Overbeck: Das kommt wahrscheinlich auf den Standpunkt an, vom dem aus man diese Frage betrachtet. Wir neigen dazu, die vielen Negativmeldungen in den Nachrichten als Grund für einen pessimistischen Blick in die Welt zu nehmen. Oft ist aber ein nüchterner Blick auf die Realitäten hilfreicher, um gute Umgangsmöglichkeiten damit zu finden.
Fakt ist, dass die Sicherheitslage durch internationalen Terrorismus, hybride Bedrohungen sowie komplexe politische Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen global sehr angespannt ist. Für uns in Deutschland lässt sich außerdem sagen, dass es zunehmend Menschen gibt, die sich mit existenziellen Sorgen konfrontiert sehen.
KNA: Einwanderung, Inflation, Armut und soziale Ungleichheit – laut einer Studie die größten Sorgen der Deutschen. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Overbeck: Steigende Lebenshaltungskosten, eine anhaltende Rezession sowie die Angst vor einer weiteren Eskalation des Ukrainekrieges führen dazu, dass der Ausblick auf die kommenden Monate für viele Menschen mit sehr ernsten Sorgen verbunden ist. Für einen großen Teil der Familien in unserem Bistum und weit darüber hinaus sind bereits die gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen so enorm, dass häufig die Grenzen der Belastbarkeit überschritten sind.
Ich selbst gebe zu, auch keinen einfachen Rat zu wissen angesichts der vielen Herausforderungen. Vielleicht aber ist es schon viel, wenn wir einander ehrlich eingestehen, wie schwierig die Lage ist und wie sehr wir in dieser Zeit auf Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung angewiesen sind. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass wir diese Herausforderungen nur gemeinsam, das heißt vor allem gerecht und solidarisch, schultern werden können. Spaltung und Abschottung sind sicherlich der falsche Weg.
KNA: Im Ruhrgebiet sieht man Vieles davon wie durch ein Brennglas…
Overbeck: Ja, viele der genannten Themen sind hier einfach Realität. Es gibt eine Gleichzeitigkeit von großem materiellen Reichtum in einigen Stadtteilen und, zumindest für deutsche Verhältnisse, wirklich existenzieller Armut in anderen. Das Ruhrgebiet weist eine weit überdurchschnittliche Armutsquote von etwa 21 Prozent auf, jedes dritte Kind lebt hier in Armut. Das bringt oft auch Spannungen mit sich, die für die Kommunen nicht einfach zu lösen sind. Die allermeisten Menschen hier wollen vor allem ein gutes Leben in der Mitte der Gesellschaft führen. Ähnliches lässt sich zum Stichwort Einwanderung sagen. Das Ruhrgebiet ist in seiner industriellen und jetzt zunehmend nachindustriellen Gestalt immer ganz wesentlich durch Migration geprägt worden.
KNA: Wie erleben Sie als Ruhrbischof die Außensicht auf das Ruhrgebiet? Wird es vor allem mit den angesprochenen Schwierigkeiten assoziiert?
Overbeck: Die sind ja real. Aber diese Region mit fast fünf Millionen Menschen, von denen die allermeisten friedlich und solidarisch zusammenleben, muss vor allem auch mit ihren Potenzialen wahrgenommen werden. Selbstverständlich gelingt das Zusammenleben angesichts der alltäglichen Probleme, die Leben in Ballungszentren mit sich bringt, nicht immer reibungslos. Die meisten Menschen lernen hier, dass Kompromisse zum Leben dazugehören und es fast nie die eine, einfache Lösung für alle gibt. Diese Haltung, verbunden mit einem robusten Pragmatismus und einer ehrlichen Herzlichkeit, schätze ich im Ruhrgebiet wirklich sehr. Dass das Zusammenleben hier in dieser Form möglich ist, betrachte ich außerdem als ein wichtiges Zeichen für Deutschland und Europa.
KNA: Manche politischen Kräfte versuchen gerade, sehr einfache Lösungen anzubieten …
Overbeck: Diese scheinbar einfachen Lösungen haben alle einen hohen Preis. Sie wollen überzeugen, indem sie das Vertrauen in unsere Demokratie schwächen. Unsere Demokratie steht für Freiheit, für den Schutz der Menschenrechte und für die Sicherheit des Rechtsstaates. Ob Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit oder Solidarität – alle demokratischen Werte lassen sich letztendlich auf die Achtung der Menschenrechte zurückführen. Das zählt zu den christlichen Grundgewissheiten: Ausnahmslos jeder Mensch ist Person mit der ihr eigenen unveräußerlichen Würde. Wer dies in Frage stellt und meint, gegen die Prinzipien unseres Grundgesetzes Politik treiben zu können, ist kein Demokrat.
KNA: Wie blicken Sie auf die vorgezogene Bundestagswahl?
Overbeck: Ich hoffe sehr, dass sich in der politischen Mitte – und damit meine ich jenseits der Ränder alle Parteien, die wirklich fest auf dem Boden unserer Verfassung stehen – eine neue Koalition finden kann, die die Zeichen der Zeit erkennt, einen unideologischen Politikstil verfolgt und eine große Bereitschaft zu tragfähigen Kompromissen mitbringt.
KNA: Wird das einer neuen Bundesregierung gelingen?
Overbeck: Darüber jetzt schon zu urteilen ist kaum möglich. Gelingende Politik für eine demokratische und plurale Gesellschaft muss sicherlich auf einer guten Gesprächskultur aufbauen. Kompromisse im Interesse von Wählerinnen und Wählern können nur gefunden werden, wo Sorgen und Bedürfnisse ernst genommen und Probleme ehrlich kommuniziert werden. Es gibt dabei viele Probleme, die sich nicht einfach nach Parteilogik lösen lassen werden.
KNA: Was ist Aufgabe der Kirche in dieser Zeit der Krisen?
Overbeck: Sicherlich müssen wir uns auch als Kirche ehrlich machen und uns den gesellschaftlichen Realitäten stellen. Orientierung bieten kann dazu ein schönes Wort von Dietrich Bonhoeffer: “Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.”
Als Christen sollten wir es als eine wichtige Aufgabe verstehen, das “Tun des Gerechten” in der Welt zu unterstützen. Das umfasst sowohl das Hinhören auf die Stimmen derer, die Ungerechtigkeit erleiden, als auch den tatkräftigen Einsatz zur Veränderung von Strukturen, die solche Ungerechtigkeiten zulassen und reproduzieren. Wenn wir dies beherzigen, können wir auch in Zukunft eine wichtige Stimme und handelnde Kraft in unserer Gesellschaft sein. Weil wir Christen sind, gehört zudem auch das dazu, was Bonhoeffer “Beten” nennt. Also zu wissen, dass der Impuls für das Gute und Gerechte eben nicht nur von uns Menschen, sondern von Gott kommt.
KNA: Aber seit mindestens vier Jahren hören wir: Krise, Konflikte, Herausforderungen. Was gibt denn Weihnachten 2024 Hoffnung?
Overbeck: Angesichts der aktuellen Herausforderungen scheint es schwer, eine Hoffnungsperspektive zu entwickeln. Den Umbruchsprozessen werden wir uns auch zukünftig nicht entziehen können. Eine wirklich tragende Hoffnungsperspektive muss auf einem nüchternen Blick auf die Wirklichkeit fußen, sonst zerbricht sie später an Realitätserkenntnis. Deshalb plädiere ich zunächst dafür: Liebt die Wirklichkeit und stellt euch dieser, nicht irgendwelchen Wunschvorstellungen. Das ist vielleicht für viele frustrierend, aber das gilt es zu aller erst zu akzeptieren.
KNA: Das klingt in der Tat frustrierend.
Overbeck: Natürlich ist die Auseinandersetzung mit derart komplexen Prozessen und die Suche nach Lösungen herausfordernd und auch zermürbend. Das heißt aber nicht, dass es keinen Trost gibt. Ein Blick in die Wirklichkeit zeigt auch immer wieder, dass es vielerorts Menschen gibt, die sich für die Suche nach Lösungswegen einsetzen. Das lässt mich zuversichtlich bleiben. Für Christinnen und Christen wird zudem insbesondere an Weihnachten offenbar, dass wir bei der Lösungssuche nicht allein sind. In allen Herausforderungen unserer Welt dürfen wir uns begleitet wissen von Gott, der für uns Mensch geworden ist.
KNA: Ein Blick auf die Feiertage: Worauf freuen Sie sich?
Overbeck: Genauso wie in vielen anderen Familien gibt es am zweiten Feiertag ein großes Zusammentreffen meiner Familie. Außerdem feiere ich an diesem Tag in meiner Heimatgemeinde Gottesdienst. Das ist eine schöne Gelegenheit, Menschen wiederzusehen, die ich das ganze Jahr nicht treffe. Sei es, dass wir gemeinsam zum Gottesdienst gehen, sei es, dass wir uns zwischen den Jahren treffen, wenn die meisten in die Heimat kommen. Darauf freue ich mich sehr. Weihnachten ist für mich aber nicht nur ein Fest der Familie und der Freunde, sondern ein Hoffnungsfest aller Menschen. Daher freue ich mich genauso auf die Gottesdienste hier in Essen und die vielen Menschen, mit denen ich sie feiern kann.